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Minna Cauer und der Kampf ums Frauenwahlrecht. Konflikte und Kooperationen in einer vielstimmigen Bewegung

Minna Cauer und der Kampf ums Frauenwahlrecht. Konflikte und Kooperationen in einer vielstimmigen Bewegung

Minna Cauer und der Kampf ums Frauenwahlrecht. Konflikte und Kooperationen in einer vielstimmigen Bewegung

Minna Cauer kämpfte mit Leidenschaft für das Frauenwahlrecht. In diesem Blogbeitrag schaue ich auf ihren Kampf in den letzten Jahren vor seiner Einführung: den Jahren des ersten Weltkriegs. Eine Geschichte von Dilemmata und Fallstricken, Konflikten und Kooperationen – die letztlich unverhofft schnell gut ausging.

Konstellationen
Minna Cauer

Minna Cauer war eine der führenden Vertreterinnen des „radikalen“ Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung. Nun wird die lange unhinterfragt fortgeschriebene strikte Trennung zwischen „radikalen“ und „gemäßigten“ Frauenrechtlerinnen in der jüngeren Forschung (mit Recht!) hinterfragt1; unstrittig ist jedoch, dass es zwischen den Kreisen um Minna Cauer und der Mehrheit im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten gab.

Cauers Verhältnis besonders zum BDF (namentlich Gertrud Bäumer und Helene Lange), aber teils auch zu radikalen Weggefährtinnen wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, war schon vor dem Krieg gespannt. Das lag auch an unterschiedlichen Positionen zu einem Dilemma, mit dem jede emanzipative Bewegung konfrontiert ist: Wie weit fordert man die bestehende Macht heraus; wie weit hält man sie sich gewogen? Wie geht man mit Emanzipationsansprüchen anderer um, wenn Interessen nicht deckungsgleich sind, sich vielleicht sogar entgegenstehen?

Der Krieg fügte hierbei noch eine neue Dimension hinzu. Die Frage, wie und inwieweit man die eigene Nation unterstützte, konnte zu neuen Allianzen führen, aber auch neue Gräben aufwerfen. Viele Frauen übernahmen Aufgaben in der Kriegsfürsorge, um Not zu lindern – etwa im „Nationalen Frauendienst“, der von bürgerlichen Frauenrechtlerinnen gegründet worden war, aber auch von Sozialdemokratinnen mitgetragen wurde. Andere – so Augspurg und Heymann – lehnten auch solche „Kriegsbeteiligung“ an der „Heimatfront“ strikt ab.2

Minna Cauer versuchte immer wieder den Brückenschlag – sowohl hin zu den „Gemäßigten“ als auch zu den Sozialdemokratinnen. Dabei war sie leidenschaftliche Kämpferin für demokratische Prinzipien, die an den Umständen, den Machtverhältnissen, aber auch an den Frauen, mit denen und für die sie kämpfte, zuweilen bitter leiden konnte.

Zu kaum einem Zeitpunkt wurde das so deutlich wie während des Ersten Weltkriegs. Cauers Haltung zum Nationalen Frauendienst wäre einen eigenen Artikel wert. Hier soll es um die andere Frage gehen, die Minna Cauer insbesondere während der zweiten Kriegshälfte verstärkt umtrieb: das Frauenwahlrecht.

Die Frauenstimmrechtsbewegung vor dem Krieg

1914 hatte die Frauenbewegung einiges erreicht. Frauen waren in ganz Deutschland zum Studium zugelassen, politische Arbeit in Vereinen und Parteien war ihnen seit 1908 erlaubt, ökonomische Handlungsspielräume hatten sich durch Fortschritte im Arbeits- und Berufsrecht vergrößert. Allerdings galt letzteres nach wie vor nicht für Ehefrauen; auch eine eigene politische Stimme war Frauen noch verwehrt. Dies – das Wahlrecht – war das nächste große Projekt der Bewegung.

Dabei war es nicht ganz einfach für die bürgerliche Frauenbewegung, sich auf Forderungen zu einigen. In Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern, waren ja noch nicht einmal alle Männer gleichermaßen wahlberechtigt. Was also forderte man? Das gleiche Wahlrecht wie es für die Männer galt? Also eins, das nach Steuerklasse (oder – wie in den USA – nach Hautfarbe) diskriminierte? In Preußen galt ja das Dreiklassenwahlrecht. Für die Sozialdemokratinnen war da klar: Sie forderten das gleiche Wahlrecht, wie es sozialdemokratische Männer forderten – also: nicht nur das allgemeine, sondern das gleiche Wahlrecht, bei dem jede Stimme gleich viel zählte.

Die bürgerlichen Frauen waren sich uneins. Minna Cauer gehörte mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann zu denen, die das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht forderten, und zwar explizit für beide Geschlechter. Zu diesem Zweck hatten Augspurg und Heymann 1902 den Deutschen Verband für Frauenstimmrecht gegründet. Nicht alle folgten ihnen jedoch dabei: 1912 wurde mit Protektion des Bunds deutscher Frauenvereine (BDF) die Deutsche Stimmrechtsvereinigung gegründet, die das Frauenwahlrecht analog zum jeweils geltenden Männerwahlrecht forderte.3 Damit sollte auch jenen ein Angebot gemacht werden, die sich die „sozialdemokratische“ Forderung nach dem gleichen Wahlrecht nicht zu eigen machen wollten. Schließlich gründeten Augspurg und Heymann 1913 mit dem Deutschen Frauenstimmrechtsbund eine dritte Stimmrechtsorganisation, da sie sich mit den verbliebenen Kräften im überworfen hatten.4 Der Unterschied seiner Forderung zu der des DVF war freilich kaum erkennbar: das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht – für Frauen.

Infobox: Stimmrechtsvereine in Deutschland bis 1914
VereinGründungsjahrForderung
Deutscher Verband für Frauenstimmrecht 1902allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für beide Geschlechter
Deutsche Stimmrechtsvereinigung 1912Frauenwahlrecht analog zum jeweils geltenden Männerwahlrecht
Deutscher Stimmrechtsbund1913allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für Frauen

Cauer blieb zunächst als Vorsitzende des preußischen Landesvereins Teil des DVF. Die Zersplitterungen erwiesen sich jedoch als so aufreibend, dass die nunmehr Siebzigjährige sich 1912 zeitweilig ganz aus der Arbeit zurückzog. In Heymanns und Augspurgs Bund trat sie nicht ein, was auch persönliche Gründe gehabt haben mag: In einem Umfeld, in dem die Arbeit für die Bewegung auch mit erheblichem emotionalem Einsatz verbunden war, waren persönliche Verletzungen nicht ausgeblieben. Die drei setzten ihre Zusammenarbeit zwar bis zu Cauers Tod fort; eine Kluft insbesondere zwischen Minna Cauer und Lida Gustava Heymann aber blieb.5

Die beiden führenden Köpfe im BDF, Gertrud Bäumer und Helene Lange, hatten sich von den Stimmrechtsvereinen derweil ferngehalten. Ihre Strategie war, die Forderung nach dem Frauenstimmrecht in die linksliberalen Parteien zu tragen. Das Ziel war gleich, die Taktik jedoch eine andere: Da Parteien keine single-issue-Organisationen sind, mussten die Frauen versuchen, ihre Themen auf dem Verhandlungsweg auf die Agenda zu bringen. Das war angesichts der für sie ungünstigen innerparteilichen Machtverhältnisse schwierig. Gerade Bäumer war hinter den Kulissen aktiv, konnte aber bis Kriegsausbruch keine Erfolge erzielen.6

Gertrud Bäumer
Die Frauenstimmrechtsbewegung zu Kriegsbeginn

Während der BDF die Stimmrechtsforderung (offiziell ohnehin nicht seine oberste Priorität) bei Kriegsausbruch vorerst zurückstellte, verstummte die Debatte in Cauers Kreisen kaum. Schon 1914 gab es Diskussionen in der von Minna Cauer herausgegebenen Zeitschrift für Frauenstimmrecht, ob sich die Stimmrechtsbewegung nicht doch vereinen ließe.7 Minna Cauer nahm sich Silvester 1914 vor, sich noch einmal für Einheit im Kampf um das Frauenwahlrecht einzusetzen; wenige Tage später schrieb sie an Bund, Verband und Vereinigung.8 Von Heymann und Augspurg kam eine ablehnende Antwort 9 – was etwas verwundert, da Cauer genau das vorschlug, was auch Heymann zuvor befürwortet hatte: ein Stimmrechtskartell, in dem sich die Frauen verbandsübergreifend wenigstens auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen würden, ohne jedoch organisatorisch miteinander zu verschmelzen 10.

Eine Woche nachdem Cauer im Mai erneut Briefe geschrieben hatte11, folgte die Enttäuschung: In Berlin hatte ohne ihr Wissen eine Konferenz stattgefunden, die genau das zum Thema gehabt hatte, was ihr Anliegen gewesen war.12 Eingeladen hatte dazu die Frauenrechtlerin Maria Lischnewska, die im preußischen Landesverein schon seit 1907 im quasi innerparteilichen Gegensatz zu Cauer gestanden hatte: Lischnewska hatte Cauers radikaldemokratische Wahlrechtsforderungen damals scharf kritisiert. Sie fand, es müsse genügen, das gleiche Wahlrecht wie die Männer zu bekommen – und hatte eine starke verbandsinterne Opposition um sich geschart. Daneben hatte sie außerhalb des Verbands eine „liberale Frauenpartei“ gegründet, der das seltene Privileg zuteil wurde, Minna Cauer, Helene Lange, Gertrud Bäumer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann auf exakt dieselbe Meinung zu vereinen: Das ging gar nicht! 13 Bei ihrer Stimmrechtsinitiative erzielte Lischnewska jedoch, was Cauer versagt geblieben war: eine positive Antwort von Augspurg. Cauer war nicht eingeladen.

1915: Auftritt Gertrud Bäumer

Die nächste Überraschung für Cauer ließ nicht lang auf sich warten: Im Juli 1915 trat die BDF-Vorsitzende Gertrud Bäumer dem Stimmrechtsverband bei. Wohlgemerkt: Der Stimmrechtsverband, das war der mit der ursprünglich „sozialdemokratischen“ Forderung nach dem gleichen Wahlrecht. Zuvor hatte Bäumer als Vorsitzende des BDF eher die moderatere Vereinigung, protegiert. Bäumer mag dabei jedoch entgegengekommen sein, dass es innerhalb der Vereinigung mittlerweile auch Stimmen gab, die die radikaldemokratischen Forderungen kritisch sahen.

„Die ist aber die raffinierteste, aber auch gewissenloseste Politikerin, die es geben kann […] fühlt sie das Stimmrecht reif für ihre ewig schwankende Leitung […]?“14

kommentierte Cauer die Aktion. Die Mehrheit der Bewegung nahm angesichts von Bäumers Prominenz allerdings offenbar gern in Kauf, dass die neue moralische Führungsfigur sich zuvor nie als öffentliche Vorkämpferin hervorgetan hatte. Cauer nahm es resigniert:

„Heute waren zwei Stimmrechtlerinnen von auswärts bei mir, um sich Rat zu holen: […] Gute, liebe Menschen, von Übersicht, Klarheit und Beurteilung keine Spur. Unzufriedenheit mit der Leitung, ja, aber weiter geht es nicht. Frau Stritt wollen sie nicht mehr, ebenso wenig Frau Voß-Zietz, aber wen? Da kommt Bäumer zur rechten Zeit u. – ich mußte doch bitter lächeln, wenigstens in meinem Innern – die könne vielleicht doch noch retten.“15

Ein Grund mag gewesen sein, dass Bäumers Name Gewicht in der Öffentlichkeit hatte – gerade weil sie nicht als „radikal“ galt. Die Tatsache, dass sie sich nun der Sache annahm, war ein Zeichen, dass man die Chance hatte, Gehör zu finden. Dass die frühen Propagandistinnen das als Schlag empfinden mussten, scheint Bäumer freilich nicht sonderlich belastet zu haben.

1915/1916: Fusionen in der Stimmrechtsbewegung

Im November 1915 beschlossen Verband und Vereinigung die Fusion in den Deutschen Reichsverband für das Frauenstimmrecht. Damit war Cauers Hoffnung auf ein Kartell hinfällig: Der Bund war bei der Fusion außen vor geblieben, da man zwar bereit gewesen wäre, mit Verbänden zu kooperieren, die nur (aus seiner Sicht) Minimalforderungen stellten, aber nicht dazu, mit ihnen zu fusionieren. In einem Kartell hätte man die eigene Satzung beibehalten und wäre nur nach außen vereint aufgetreten. Cauer konnte die Forderung des neues Vereins – die Anwendung des jeweils für Männer geltenden Wahlrechts für Frauen – nicht unterschreiben. Sie berief eine Sitzung ihres Vereins Frauenwohl ein und sammelte Frauen um sich, denen die Forderung ebenfalls nicht weit genug ging. Im Mai nahm Frauenwohl die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für Frauen und Männer in seine Satzung auf.16

Zu guter Letzt trat Cauer doch in Heymanns und Augspurgs Bund ein. Und auch auf der kommunalen Ebene war Bewegung. Im November hatte Cauer einen Termin bei Oberbürgermeister Adolf Wermuth: Unterhalb der Berliner Magistratsebene gab es 17 Bürgervertretungen, genannt „Deputationen“. Zur Debatte stand nun Frage, ob auch Frauen zu diesen Deputationen zugelassen werden sollten. Als Cauer Wermuth bat, die Sache in ganz Preußen voranzutreiben, zeigte jener sich aufgeschlossen 17 – und reagierte damit offener als der BDF. Dort hatte Cauer eine Petition zur Zulassung von Frauen in die Deputationen angeregt, war aber auf Ablehnung gestoßen. Man wollte nach dem Engagement für die „nationale Sache“ im Nationalen Frauendienst nicht den Eindruck erwecken, als wolle man „eine Quittung für Leistungen“ 18  ausstellen.

So ganz drang Cauer mit ihrem Vorstoß bei Wermuth nicht durch, aber immerhin konnte sie einen Etappensieg verbuchen: Frauen sollten „mit beratender Stimme“ zu den Deputationen zugelassen werden.19 Und im Februar sandte der Magistrat eine Eingabe an das Abgeordnetenhaus, in der er die Aufnahme des Frauenstimmrechts in die Städteordnung anregte.20

Die Osterbotschaft 1917 und die Folgen

Zu Ostern 1917 hatte Wilhelm II. der Bevölkerung eine Ausweitung des Wahlrechts in Aussicht gestellt. Bereits zuvor hatten Sozialdemokraten und Fortschrittliche im Reichstag Reformen angemahnt; Kanzler Bethmann-Hollweg hatte auf Druck der Fraktionen dem Staatsministerium (erfolglos) einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt. 21 Die Demokratisierung des Wahlrechts war also im Gespräch – zumindest für Männer.

Wer nicht im Gespräch war, waren die Frauen.

Und so rückte im Frühjahr 1917 die Stimmrechtsbewegung noch einmal zusammen. Mit der Osterbotschaft und den vorangegangenen Reichstagsdebatten war die Forderung nach dem Frauenwahlrecht zwar immer noch radikal; aber die nach dem gleichen (Männer-)Wahlrecht war es nicht mehr. Schließlich forderten es mittlerweile ja sogar die Liberalen! Das machte für die linksliberalen Frauen die bange Frage hinfällig, ob man mit einer Wahlrechtsforderung den politischen Gegner unterstützen oder gar den eigenen, bürgerlichen Ruf riskieren würde.

Im Mai 1917 konstituierte sich der Verfassungsausschuss. Im Juni fanden daraufhin Debatten in der Frauenbewegung statt, wie die eigenen Forderungen eingebracht werden könnten. Man einigte sich auf eine für Oktober geplante Kundgebung, wo Gertrud Bäumer und Minna Cauers enge Mitarbeiterin Else Lüders (nicht zu verwechseln mit der liberalen Politikerin Marie-Elisabeth Lüders) die Hauptrednerinnen waren.

Die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht hatte sich zwar immer noch nicht bei allen Frauen der Stimmrechtsbewegung durchgesetzt; Lange und Bäumer vertraten sie jedoch spätestens seit Ostern mit Nachdruck. Letztere nutzte die Situation auch für eine offene Konfrontation mit einer BDF-internen Opposition: Der mitgliederstarke Deutsch-Evangelische Frauenbund, der 1908 auf Bäumers Initiative dem BDF beigetreten war, war nicht, wie von Bäumer gehofft, an die Frauenbewegung herangerückt, sondern hatte im Gegenteil eine Verschiebung des Bundes nach rechts bewirkt. Unter anderem hatte er sich stets gegen jegliche Stimmrechtsforderungen gesperrt. Als er nun mit Austritt drohte, ließ Bäumer es drauf ankommen – und hatte fortan ein Problem weniger.

Minna Cauers großer Auftritt

Cauer überwand indes den persönlichen Schmerz darüber, dass die „Gemäßigten“ nun mit viel Resonanz eine Forderung vertraten, die sie bei ihr zuvor aufs Schärfste kritisiert hatten. Sie betrieb nun ihrerseits die Einigung. Der Stimmrechtsbund, ihr Verein Frauenwohl und der Preußische Landesverein für das Frauenstimmrecht (Cauers ehemaliges „Ziehkind“) beschlossen punktuelle Zusammenarbeit in unstrittigen Fragen. 22 Damit reichte ihre Einigungsinitiative bis in die Reihen des 1916 gegründeten, großen Reichsverbands hinein, zu dem der Preußische Landesverein gehörte.

Gleichzeitig bahnte sie eine gemeinsame Kundgebung liberaler und sozialdemokratischer Stimmrechtlerinnen an. Diese fand am am 17. Dezember 1917 im Lehrervereinshaus statt.23 In den folgenden Wochen sandte man gemeinsame Deputationen zu den Reichstagsfraktionen. Der Empfang war jeweils freundlich, wenngleich die Parteien nicht über ihre bisherigen Positionen hinausgingen.24 Es folgten weitere Kundgebungen, auch unter Einbeziehung des Reichsverbands in Person seiner Vorsitzenden Marie Stritt. Die letzte vor der Revolution fand am 4. November statt.

Einordnungen: Was hatte sich zwischen 1914 und 1918 getan?

Wenn der britische Historiker Richard Evans nun schreibt, dass es kein Zeichen gab, dass „die Erfahrung des Kriegs irgendetwas dazu beitrug, die politische Position der Frauen in Deutschland zu stärken“, und die Dinge sich erst veränderten, „als das wilhelminische politische System durch die Revolution gekippt wurde“, so scheint das ein vorschnelles Urteil.25 Dass der Krieg für die Frauenbewegung eine irgendwie beschleunigende Wirkung hatte, kann man wohl verneinen. Die Entwicklungen lösten die Versprechungen eher nicht ein, die sich gerade die „Gemäßigten“ von ihrer Zuarbeit gemacht hatten.26 Und: Das Frauenwahlrecht kam mit der Revolution und wäre ohne sie zu jenem Zeitpunkt nicht gekommen.

Dass sich zwischen 1914 und 1918 aber nichts veränderte, kann man so nicht stehen lassen. Sicher hatte der „Burgfriede“ eine verzögernde Wirkung auf die Bewegung. Die Kärrnerarbeit in Parteien und Kommunalpolitik hatte aber tatsächlich ein schrittweises – wenngleich frustrierend langsames – Umdenken und teils auch Fortschritte (in, wie Helene Lange spitz bemerkte, „homöopathischen Dosierungen“27) bewirkt, sodass angesichts der Parlamentarisierungstendenzen im letzten Kriegsjahr fraglich ist, wie lange dieses Umdenken auch ohne die Revolution völlig folgenlos geblieben wäre. Das wilhelminische System war ohnehin nicht mehr zu halten. Und auch wenn das Frauenwahlrecht erst sehr spät selbst in fortschrittlichen Kreisen Akzeptanz gewann und Deutschland damit mindestens extrem langsam war – eine schrittweise Umsetzung wäre im internationalen Vergleich nicht außergewöhnlich gewesen. Sabine Hering findet zudem, dass

„keine Rede von einem Geschenk der Revolution an die Frauen sein [kann], wenn eine Forderung eingelöst wird, die von Frauen seit über 40 Jahren formuliert wurde und zu deren Erfüllung seit mehr als 15 Jahren Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen zusammengefügt worden war.“28

Endlich: Das Stimmrecht!

Am 8. November 1918 war es soweit: Der Rat der Volksbeauftragten führte das Frauenwahlrecht ein. Im Januar 1919 würden Frauen in ganz Deutschland zum ersten Mal an Wahlen teilnehmen. Im Alter von 77 Jahren würde Minna Cauer zum ersten Mal in ihrem Leben zu Wahlurne schreiten. Das Ziel, auf das sie so lange hingearbeitet hatte, war erreicht.

Im Tagebuch wird ihr Jubel greifbar:

„Traum meiner Jugend, Erfüllung im Alter! Ich sterbe als Republikanerin.“29

Minna Cauer

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Dieser Blog-Post ist ein Beitrag zur Blog-Parade #Deutungskämpfe der Staatlichen Archive Bayerns und der Archive in München. Worum geht es da? Hier erfahrt ihr mehr – und könnt mehr spannende Beiträge über Deutungskämpfe in Geschichte und Geschichtswissenschaft lesen!

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Bildquellen:

Minna Cauer, Illustrirte Zeitung 1912, (unbekannter Fotograf), via Wikimedia Commons.

Gertrud Bäumer im Vorstand des deutschen Frauenkongresses von 1912, Deutsche Illustrierten Gesellschaft, Berlin – Rhein und Düssel (No. 11) vom 16. März 1912, via Wikimedia Commons.

Else Lüders: Minna Cauer. Leben und Werk, Gotha/Stuttgart 1925. (Frontispiz)


Anmerkungen
  1. Hierzu Gisela Bock: „Frauenwahlrecht – Deutschland um 1900 in vergleichender Perspektive“, in: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, hg. v. Michael Grüttner u.a., Frankfurt a. M. und New York 1999, S. 95-136. []
  2. Einen guten Überblick bietet Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990, S. 308-321[]
  3. Gisela Bock warnt davor, in dieser international gängigen Forderung vorschnell einen „konservativen Sonderweg der deutschen Feministinnen“ sehen zu wollen. Bock, Frauenwahlrecht, S. 123. []
  4. Wie kompliziert die Gemengelage war, zeigt die Tatsache, dass sich Augspurg und Heymann ausgerechnet an der von ihnen als zu „gemäßigt“ empfundenen Marie Stritt störten. Diese hatte 1910 ihr Amt als Vorsitzende des BDF aus eben dem Grund verloren, dass sie in einigen Fragen „radikaler“ tendierte als dessen Mehrheit. Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 145. []
  5. Das Verhältnis zu Heymann war schon lange getrübt, nicht zuletzt aufgrund Heymanns konfrontativer Art, die Cauer als verletzend empfand (z.B. Briefe an E. M v. Witt, 9.11.1906 und 15.1.1907, wo sie schreibt: „L. G. Heymann hat ein Loch, wo andere Menschen Gemüt haben.“) Heymann hingegen stellte bei Cauer Empfindlichkeit und einen nachtragenden Zug fest und liegt damit auch nicht ganz falsch. (Lida G. Heymann: „Minna Cauer“, in: Die Frau im Staat, 4. Jg. [1922], Nr. 9, S. 3-4. []
  6. Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln u.a. 2000., S. 137-143. []
  7. Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933. Göttingen 1981, S. 251, Anm. 61. []
  8. Tagebuch Minna Cauer, 31. Dezember 1914 und 10. Januar 1915. Minna Cauer Papers, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG), Amsterdam. []
  9. Tagebuch, 6. Februar 1915. []
  10. Tagebuch, 12. März 1915 []
  11. Tagebuch, 19. Mai 1915. []
  12. Tagebuch, 25. Mai 1915. []
  13. Greven-Aschoff, Frauenbewegung, S. 135; Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer, S. 142. Die immer nationalliberaler tendierende Lischnewska taucht in verschiedenen Zusammenhängen der Frauenbewegung auf, zum Beispiel in Helene Stöckers Bund für Mutterschutz und im Verband fortschrittlicher Frauenvereine. (Ebd., S. 111, Richard J. Evans: The Feminist Movement in Germany 1894 – 1933. London und Beverly Hills 1976, S. 120 u. 192.) []
  14. Tagebuch, 9. Juli 1915.[]
  15. Tagebuch, 29. Juli 1915 []
  16. Tagebuch, 18. März und 1. Mai 1916. []
  17. Tagebuch, 28. November 1916. []
  18. Tagebuch, 12. Dezember 1916. []
  19. Tagebuch, 18. Januar 1917. []
  20. Tagebuch, 13. Februar 1917. []
  21. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Band II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1998, S. 834f. []
  22. Tagebuch, 10. November (fehldatiert: Oktober) 1917. []
  23. Die USPD-Frauen waren zuvor aus dieser speziellen Kundgebung noch ausgeschert, da eine Kundgebung mit drei Veranstaltern nicht genehmigt worden war und Cauer den Landesverein gebeten hatte, als Anmelder zu fungieren, da jener am wenigsten behördliche Skepsis zu erwarten hatte. Die Unabhängigen wollten den Anschein eines „Unterkriechens“ bei ihrer Basis nicht riskieren (Tagebuch, 30. Dezember 1914.) An späteren Aktionen beteiligten sie sich wieder. []
  24. Tagebuch, 30. Dezember 1917, 19. und 30. Januar 1918. []
  25. Evans, Movement, S. 227 (meine Übersetzung). []
  26. Z. B. Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1995, S. 119 und Sabine Hering: Die Kriegsgewinnlerinnen. Praxis und Ideologie der deutschen Frauenbewegung im Ersten Weltkrieg. Pfaffenweiler 1990, S. 156. []
  27. zit. n. Hering, Kriegsgewinnlerinnen, S. 138. []
  28. Hering, Kriegsgewinnlerinnen, S. 138. []
  29. Else Lüders: Minna Cauer – Leben und Werk. Gotha/Stuttgart 1925, S. 223. []