Archivarbeit führt manchmal auf Nebengleise zu wundersamen Orten. Einer davon ist ein herrschaftlicher Altbau am Landwehrkanal in Berlin, ziemlich genau mittig zwischen Potsdamer Straße und Lützowplatz. Eine Frauengeschichte in zwei Akten und einem Zwischenspiel.
Prolog
Das ist das Schöneberger Ufer 71 in Berlin. Zumindest ist es das heute – vor dem Zweiten Weltkrieg trug das Haus die Nummer 38.
Die Fenster waren nicht immer so groß: Bis 1910 war es wohl ein ziemlich normaler herrschaftlicher Bau mit großen, eleganten Wohnungen. Mitte der 1880er Jahre, als unsere Geschichte einsetzt, war es noch am Stadtrand gelegen. Die Pferdebahn, die den noch spärlich bebauten Kurfürstendamm hinunter nach Halensee führen sollte, war noch in Planung, ebenso wie die Bebauung südlich des Nollendorfplatzes. Erst nach und nach sollten die Altbauten zu Straßenzügen zusammenwachsen.
Hier, fernab von der Enge der Arbeiterviertel im Norden und Osten der Stadt, weit weg von den Fabriken, dafür mit unverbautem Blick auf den Landwehrkanal mit seinen Trauerweiden, zog im Jahr 1884 die verwitwete Ritterschaftsrätin Pauline Pappritz, geborene von Stülpnagel, mit ihrer Tochter Anna ein.
Akt 1: Anna Pappritz zieht ein …
Das gleich vorweg: Eine Traum-WG war das nicht. Anna Pappritz war 23, als sie mit der Mutter nach Berlin kam. Eine angegriffene Gesundheit als Folge eines schweren Unfalls vier Jahre zuvor zwang sie, wie sie selbst schrieb, zu einem „stillen, zurückgezogenen Leben“.1 Anna fühlte sich oft eingeengt, und in ihrem Tagebuch glaubt man an einigen Stellen fast ihr Aufatmen zu hören, wenn die Mutter einmal auf ein paar Tage verreist war. An eine andere Lösung war aber nicht zu denken: Anna Pappritz war die einzige Tochter, zudem ehelos, und einen Beruf hatte sie auch nicht erlernt. So arrangierte man sich – wenngleich Anna sich 1906, entnervt von den vielen Logierbesuchen in der Wohnung, wenigstens eine doppelte Zimmertüre einbauen ließ.
Ruhe konnte sie gut gebrauchen. 1895 (also mit 34 Jahren) hatte ihr zurückgezogenes Leben nämlich ein Ende gefunden: Anna Pappritz hatte die Frauenbewegung entdeckt. Endlich, mag man sagen – hatte doch die Berliner Frauenbewegung seit einigen Jahren direkt in der Nachbarschaft ihr Epizentrum. Die berühmte Frauenrechtlerin Helene Lange wohnte zeitweilig nur drei Häuser weiter; die ebenso berühmte Minna Cauer lebte auch nicht weit entfernt.
… wird zur Frauenrechtlerin …
Anna Pappritz engagierte sich zunächst im Verein Frauenwohl und wurde später eine der führenden Vertreterinnen des Abolitionismus – dem Kampf gegen die staatlich reglementierte Prostitution.2 Die Arbeit in der Frauenbewegung wurde für die Mittdreißigerin bald zu einem Vollzeitjob. Die Freizeit kam aber auch nicht zu kurz, denn gemeinsam mit Pappritz‘ Engagement in den Frauenvereinen wuchs auch ihr Freundinnenkreis. Sie lernte das Radfahren, ging mit ihren neuen Freundinnen auf „famose Radtouren“3 – und traf die Frau ihres Lebens: die zehn Jahre jüngere Margarete Friedenthal, die hier im Blog sogar schon zweimal Thema war.
Aus Freundschaft wurde schnell Liebe. Einen großen Drang zur gemeinsamen Wohnung hatten Anna Pappritz und Margarete Friedenthal dennoch nie. Friedenthal wohnte zunächst noch bei ihren Eltern; nach deren Tod bezog sie eine geräumige Wohnung in der Derfflingerstraße, ganz um die Ecke vom Schöneberger Ufer. Ein eventueller Einzug der Freundin scheint nie geplant gewesen zu sein; trotzdem kann man sagen, dass die beiden Frauen ihr Leben miteinander teilten. Im Tagebuch erscheint der „Lemur“ (so Margarete Friedenthals Spitzname) immer wieder als wichtigste Bezugsperson in Anna Pappritz‘ Leben. Die beiden fuhren gemeinsam in den Urlaub und wurden in der Frauenbewegung, im Freundinnenkreis und in den Familien als Paar wahrgenommen. Und das blieben sie bis zu Anna Pappritz‘ Tod 1939.
… und zieht wieder aus.
1910 kam es dennoch zu einer Veränderung in Anna Pappritz‘ Wohnverhältnissen. Im März wurde die Wohnung am Schöneberger Ufer aufgelöst; Pauline Pappritz zog zu ihrer Schwester Emma. Anna ging nicht mit. Überraschend ist das sicher nicht, da das Verhältnis zwischen Nichte und Tante nicht das beste war – aber seltsam mutet doch an, dass sich offenbar niemand darum gekümmert hatte, wo Anna denn wohnen sollte. Die nächsten Wochen tingelte sie von Gästezimmer zu Gästezimmer.
Vorübergehend wohnte sie bei Margarete Friedenthal; als jene zur Kur war, kam sie bei anderen Freundinnen unter. Ende Juni oder Anfang Juli fand Anna Pappritz schließlich eine Wohnung in Steglitz. Zunächst wohnte sie in der Treitschkestraße 14; ein Jahr später zog sie in die Mommsenstraße (heute Markelstraße) 23. Dort sollte sie bleiben, bis Inflation und Krankheit sie doch dazu zwangen, ihre Wohnung aufzugeben. Ihre letzten Jahre verbrachte sie dann doch mit Margarete Friedenthal gemeinsam in der Derfflingerstraße.4
Zwischenspiel: Im Archiv in Hofheim
Schnellvorlauf ins Jahr 2017. Ich sitze in Hofheim am Taunus über dem Nachlass der Malerin Ottilie Roederstein. Über einiges, was ich dort fand, habe ich im Podcast schon einmal gesprochen. Ein Fundstück, das im Podcast keinen Platz mehr fand, war Kondolenzbrief, den Roedersteins Lebensgefährtin Elisabeth Winterhalter im Dezember 1937 von einer gewissen Emma Hagemeister erhielt.5 Mitgezeichnet war er vom „alte[n] Lehnertli“. Das „alte Lehnertli“, so viel wusste ich, war Ottilie Roedersteins Studienfreundin aus Berliner Tagen, Hildegard Lehnert.
Zu dieser Hildegard Lehnert wusste ich bis dato wenig, außer dass sie zeitgleich mit Ottilie Roederstein im Atelier des Malers Carl Gussow studiert hatte – und wie sie aussah. Ottilie Roederstein hatte sie 1931 nämlich einmal porträtiert. Das Bild, von dem sich auch ein Druck im Nachlass befand, war bereits in einer Biografie zu Ottilie Roederstein abgedruckt.
Ich gebe zu, ich war ein bisschen schockverliebt. Und so war es nicht zuletzt diese Bild, das mich weiterrecherchieren ließ, wer diese Frau wohl war. Und wie ich so googelte, da stieß ich auf einen Artikel, der Hildegard Lehnert mit einer Adresse in Verbindung brachte, die mir irgendwie bekannt vorkam: das Schöneberger Ufer 71.
Akt 2: Hildegard Lehnert und das Schöneberger Ufer 71
Moment mal, was? Das Schöneberger Ufer 71 war ein „Haus der Künstlerinnen“? Aber da hatten doch Anna Pappritz und ihre Mama gewohnt!
Da musste wohl ein bisschen frauen-stadthistorische Detektivarbeit her. Eine meiner Lieblingsressourcen dafür ist seit langem online: Die Adressbücher Berlins und seiner Vororte, digitalisiert von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB). Vielleicht waren Anna Pappritz und Hildegard Lehnert ja eine Weile lang sogar Nachbarinnen …
Ich mach’s kurz: Waren sie nicht. Aber die Recherche ergab, dass es in der Tat eine Verbindung zwischen einerseits dem Einzug Hildegard Lehnerts und des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen Berlins, wie er damals hieß, und andererseits dem Auszug der Pappritz-Frauen gab. Die Adressbücher waren nämlich nicht nur nach Namen, sondern auch nach Adressen durchsuchbar. Ich konnte also nachschauen, wer zu einer gegebenen Zeit an einer Adresse lebte – oder zumindest dort Hauptmieterin oder Haushaltsvorstand war. 1909 standen dort zum Beispiel noch die verwitwete Ritterschaftsrätin Pauline Pappritz (Anna hatte keinen eigenen Eintrag) und diverse andere Parteien, vielleicht zehn an der Zahl. 1911 stand dort nur: „Neubau.“ Als Eigentümerin der Immobilie war der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen Berlin angegeben.
Der Verein hatte die Immobilie also offenbar erworben und ließ das Gebäude zunächst einmal umbauen, damit dort Ateliers entstehen konnten. Vorher hatte er seinen Sitz in der Potsdamer Straße im Gebäude des Victoria-Lyceums gehabt. Offenbar waren diese Räumlichkeiten aber zu klein geworden.
Nach erfolgtem Umbau zog Hildegard Lehnert als Direktorin der Zeichenschule dort ein und lebte dort vermutlich bis zu ihrem Ruhestand.
Wie es weiterging
Pauline und Anna Pappritz waren also nicht ganz freiwillig ausgezogen. Pauline zog wie gesagt zu ihrer Schwester Emma, wo sie noch ein Jahr lebte. 1911 verstarb sie im Alter von 80 Jahren. Anna war nach mehrmonatiger Wohnungssuche mittlerweile in Steglitz angekommen. In ihrem Tagebuch schrieb sie zum Jahresende 1910, noch an den Folgen einer Grippe laborierend: „Den Sylvester Abend verlebte ich ganz allein, aber doch zufrieden, da ich ein eignes Heim habe.“6
Und so hatte der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen Anna Pappritz vielleicht doch auf eine Weise einen Gefallen damit getan, ihr die Wohnung quasi unter dem Sofa weggekauft zu haben. Ein Heim für sich allein – das hatte sie sich immer gewünscht.
***
Übrigens: Hildegard Lehnert zog übrigens auch noch einmal um – entweder mit Emma Hagemeister oder zu ihr. Der Brief im Nachlass von Ottilie Roederstein trägt nämlich die Anschrift „Regensburger Straße 50“ – was ein Tippfehler sein muss, denn diese Hausnummer existiert nicht. Schaut man auch hier wieder in den Berliner Adressbüchern, so ergibt sich als Anschrift die Regensburger Straße 5. Auch das war ein herrschaftlicher Altbau, nicht weit vom Viktoria-Luise-Platz.
Scheint so, als hätte es sich dort aushalten lassen.
Bildquellen:
- Fotos der Häuser: privat.
- Adressbucheinträge: Digitale Landesbibliothek Berlin.
- Anna Pappritz: Loeschner & Petsch, Landesarchiv Berlin B Rep. 235.FS Nr. 37c.
- Hildegard Lehnert: S/W-Fotografie eines Gemäldes von Ottilie Roederstein, 1931, Stadtarchiv Hofheim (Nachlass Hermann Jughenn)
Habt ihr Lust auf mehr Frauengeschichte? Im Podcast findet ihr jede Menge Folgen über Frauenpaare. Schaut mal rein! Übrigens: Ihr findet mich auch auf Twitter und Instagram. Und wenn euch ganz dolle gefällt, was ihr lest, freue ich mich natürlich über jede und jeden von euch, die oder der meine Arbeit mit einem Käffchen auf Ko-Fi unterstützt. Vielen Dank!
Anmerkungen- Anna Pappritz: Wie ich zu meiner Arbeit kam. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1908, LAB B Rep 235-13 MF 3467-3470, S. 21.[↩]
- Prostitution war in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern, nicht verboten, sondern staatlich „reglementiert“: Prostituierte wurden polizeilich registriert, was regelmäßige Zwangsuntersuchungen und polizeiliche Schikane mit sich brachte. Die Abolitionist*innen setzten sich dafür ein, die polizeiliche Reglementierung abzuschaffen. Vgl. hierzu Kerstin Wolff: Anna Pappritz (1861-1937). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach/Ts, 2017.[↩]
- Anna Pappritz: Tagebuch, Berlin 1922, LAB B Rep 235-13 MF 3466-3467, Einträge von 1899-1901[↩]
- Zu Anna Pappritz vgl. auch meine Einführung in Anna Pappritz: Indisches Tagebuch. Eine Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Bianca Walther, mit einem Vorwort von Bärbel Kuhn und Kerstin Wolff, St. Ingbert 2020, sowie Kerstin Wolff: Anna Pappritz (1861-1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach/Taunus 2017.[↩]
- Brief Emma Hagemeister an Elisabeth Winterhalter vom 1. Dezember 1937, Nachlass Hermann Jughenn, jetzt Roederstein-Jughenn-Archiv im Städel Museum (Zum Zeitpunkt der Sichtung im Privatbesitz ohne gesonderte Signatur).[↩]
- Anna Pappritz: Tagebuch, Berlin 1899-1922, Manuskript, Landesarchiv Berlin B Rep. 235-13 MF Nr. 3466/3467[↩]