Margarete Friedenthal: Eine bürgerliche Frauenrechtlerin und die Arbeiterinnen

Margarete Friedenthal (1871-1957) gehört zu den weniger bekannten deutschen Frauenrechtlerinnen. Die Millionärstochter bevorzugte eigentlich immer einen Platz in der zweiten Reihe. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, auch einmal deutlichere Worte zu wählen – etwa, wenn es um die Förderung der Interessen von Arbeiterinnen ging. Ein Archivfundstück aus dem Helene-Lange-Archiv und die Geschichte dahinter.

„Sehr geehrte Mitarbeiterinnen! Ein Vorkommnis von prinzipieller Bedeutung veranlasst uns zu einem besonderen Anschreiben.“

Margarete Friedenthal
Margarete Friedenthal (Bildquelle s.u.)

So begann ein Brief, den die Vorsitzende der Centralstelle für Arbeiterinnen-Organisation des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine, Margarete Friedenthal, am 1.12.1904 an die Mitglieder der Organisation verschickte.1 Das Schreiben war der Absenderin so wichtig, dass es gleich in Kopie an den Vorstand des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine ging. Darin saßen so namhafte Frauenrechtlerinnen wie Minna Cauer (als Vorsitzende), Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann.

Was war passiert?

Margarete Friedenthal war zu Ohren gekommen, dass die (bürgerlichen) Gründerinnen einer brandneuen „Commission für die Arbeiterinnenfrage“ es gar nicht hatten erwarten können, mit dem praktischen Engagement für die Arbeiterinnen loszulegen. Leider hatten die Frauen so gar keine Ahnung, in welches Gebiet sie da vordrangen und was Arbeiterinnen überhaupt wollten und brauchten. So hatten sie eine Geldsammlung für notleidende Frauen und eine Weihnachtsbescherung für Kinder gestartet – und damit prompt den Zorn der Arbeiterinnen auf sich gezogen. Die hatten sich nämlich schon längst organisiert, um „ihre notleidenden Mitglieder selbst zu schützen“ – wie sie entrüstet an die Vorsitzende der „Centralstelle“ schrieben.

Margarete Friedenthal – eine Millionenerbin und die soziale Frage

Margarete Friedenthal hatte für die Empörung jedes Verständnis. Im Gegensatz zu den übermotivierten Kolleginnen kannte die 33-Jährige ihr Arbeitsgebiet nämlich recht gut. 1871 in eine wohlhabende Familie hineingeboren, hatte sie zwar keinen Beruf erlernt, sich aber schon früh in der Sozialarbeit engagiert. Vermutlich mit Mitte 20 hatte sie sich den „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ angeschlossen. Diese Gruppen hatte die Sozialreformerin Jeannette Schwerin 1893 mit einigen Mitstreiter:innen gegründet, um jungen Frauen des Bürgertums eine sinnstiftende Betätigung zu vermitteln. Gleichzeitig sollte die Sozialarbeit vom Nimbus der Wohltätigkeit befreit und auf professionelle Füße gestellt werden.

Margarete Friedenthal engagierte sich zunächst in einer Gruppe, die Freiwillige an Kinderhorte vermittelte. Eine ihrer Kolleginnen in den Gruppen war übrigens ihre Altersgenossin Alice Salomon, die nach Jeannette Schwerins frühem Tod 1899 die Leitung der Gruppen übernahm und die Organisation weiter ausbaute. Die Soziale Frauenschule, die Salomon 1908 gründete, ist die direkte Vorläuferin der Alice-Salomon-Hochschule, die heute noch existiert.

Mitarbeit in den Frauenvereinen

Irgendwann, vermutlich kurz vor 1900, war Margarete Friedenthal dem Verein Frauenwohl beigetreten, den die Frauenrechtlerin Minna Cauer 1888 gegründet hatte. Von diesem Verein, der sich dem „radikalen“ Flügel der Frauenbewegung zuordnete, ging maßgeblich die Gründung des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine im Jahr 1899 aus. Als der Verband 1903 eine Centralstelle für Arbeiterinnen-Organisation gründete, um Möglichkeiten für bürgerliche Frauen auszuloten, die Interessen von Arbeiterinnen zu unterstützen, wurde Margarete Friedenthal deren Vorsitzende. Ab 1900 war sie außerdem Mitglied der Arbeiterinnenschutz-Kommission des (gemäßigteren) Bunds deutscher Frauenvereine. Deren Vorsitz hatte 1899 die Breslauerin Anna Simson von der verstorbenen Jeannette Schwerin übernommen; danach sollte er auf Alice Salomon übergehen, 1905 schließlich ebenfalls auf Margarete Friedenthal.

Margarete Friedenthal war keine Sozialdemokratin. Sie tendierte linksliberal, wurde ab 1919 auch Berliner Stadtverordnete für die DDP. Dementsprechend war sie keine große Freundin der Gewerkschaftsbewegung – was ihr aus den Reihen der Sozialdemokratie freilich auch Kritik einbrachte. Dass sie ein Modell rein weiblicher „Frauen-Gewerkvereine“ favorisierte, lag allerdings nicht nur daran, dass sie keine Anhängerin klassenkämpferischer Ideen war: „In welcher Organisationsform die deutsche Arbeiterin ihre beste Interessenvertretung findet, ob im Frauengewerkverein, ob in der gemischten Organisation, darüber fehlen uns noch die genügenden Erfahrungen zu einem abschließenden Urteil; daß sie aber in den Organisationen der Männer nicht zu einer selbstständigen Vertreterin ihrer eigenen Interessen herausgebildet wird, darüber liegen schon Erfahrungen vor“, schrieb sie 1902 als Entgegnung auf eine scharfe Kritik der (ebenfalls bürgerlichen) Frauenrechtlerin Clara Elben.2 Mit Paula Thiede gab es zu jener Zeit zwar bereits eine Vorsitzende einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft; Emma Ihrer war 1890 in die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands gewählt worden. Dennoch war Friedenthals These, dass die Interessen von Frauen in einer reinen Frauenorganisation besser aufgehoben seien, sicher auch nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Nicht über die Kopfe der Arbeiterinnen hinweg

Wie auch immer man ihr Engagement für Gewerkvereine und ihre Haltung zu Gewerkschaften bewertet – eins war klar: Margarete Friedenthal war keine, die Politik „für“ Arbeiterinnen über die Köpfe der Arbeiterinnen hinweg betrieb. Sie beteiligte sich an einem „Heimarbeiterschutz-Congress“ im März 19043 und der Heimarbeits-Austellung von 1906, die gemeinsam von bürgerlichen und proletarischen Frauen organisiert wurde. 1907 war sie maßgebliche Ausrichterin der ersten „Konferenz zur Förderung von Arbeiterinnen-Interessen“, die in den „Ständigen Ausschuss zur Förderung von Arbeiterinnen-Interessen“ mündete. Jener Ausschuss führte Erhebungen zu den Arbeitsbedingungen lohnarbeitender Frauen durch, die wiederum maßgeblich von Margarete Friedenthal selbst finanziert wurden.4 Ungefähr zu gleichen Zeit hatte Friedenthal die „Centralstelle“ des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine in einen separaten Verein überführt: den „Centralverein für Arbeiterinnen-Interessen“.

Friedenthal wusste also, was sie tat. Und deshalb war für sie klar: Wohltätige Gesten, ohne vorher zu fragen, was gebraucht und gewünscht wurde und welche Initiativen es vielleicht schon gab – das ging gar nicht! Das Schreiben an die korrespondierenden Mitglieder enthielt demnach eine klare Marschroute: Ab sofort galt es, „nicht sofort mit praktischen Schöpfungen vorgehen zu wollen, sondern mindestens einige Monate dem Studium der von uns vorgeschlagenen Werke und der orientierenden Teilnahme an Arbeiter- und Arbeiterinnen-Versammlungen zu widmen“, sowie „innerhalb der Arbeiterinnen-Organisationen alles zu vermeiden, was nach Unterstützungen und milden Gaben aussieht“. Sprich: Lest ein gutes Buch und hört zu!

Die bürgerlichen Frauenvereine sollten ihre Aufgabe als flankierend begreifen. Ihre Aufgabe sollte sein, Angebote in Sachen Weiterbildung zu machen, bei Verhandlungen mit Arbeitgebern zu unterstützen, kostenlosen Rechtsschutz und bezahlbare Versicherung anzubieten. Denn: „Ein gedeihliches Zusammenarbeiten zwischen den bürgerlichen Frauen und den Arbeiterinnen ist nur möglich, wenn erstere die bestehenden Klassenunterschiede vergisst und sich bemüht, in der wirtschaftlich schlechter gestellten Arbeiterin erhöhtes Frauenbewusstsein und Klassenbewusstsein zu erwecken und sie zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen zu befähigen.“ Zugegeben, ein wenig gönnerhaft klingt auch das noch. Bildung und Bewusstseinsbildung galten jedoch auch in der proletarischen Bewegung als Voraussetzung für Interessensvertretung. Friedenthal wird kaum das Studium von Karl Marx gemeint haben, aber immerhin: Auch ihr ging es darum, Arbeiterinnen dazu zu befähigen, gemeinsam und selbstständig ihre Anliegen zu vertreten.

Altersjahre

Im Alter geriet Margarete Friedenthal selbst in die Lage, ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Die Inflation hatte ihr Vermögen vernichtet. Und so vermietete sie fast alle Zimmer ihrer geräumigen Wohnung in der Derfflingerstraße, wo einst so viele Frauenzusammenkünfte stattgefunden hatten. Margarete Friedenthal wurde Pensionswirtin; kleinere Zuschüsse aus der Altershilfe der deutschen Frauenbewegung halfen ihr, über die Runden zu kommen. Zu ihrem 70. Geburtstag organisierte die Frauenrechtlerin Dorothee von Velsen eine große Sammlung unter alten Weggefährt:innen. Die Großzügigkeit der ehemaligen Mäzenin war nicht vergessen worden.5

Übrigens: Ihr Leben teilte Margarete Friedenthal mit der Frauenrechtlerin Anna Pappritz. Ein wenig mehr über sie habe ich in einem älteren Blogbeitrag schon einmal geschrieben: Die „Busch“ aus der Derfflingerstraße.

Bildquelle: Margarete Friedenthal, fotografiert von Hanni Schwarz (Lebensdaten unbekannt), zu: Emma Stropp: Frauen als Stadtverordnete, in: Die Gartenlaube, Heft 38/1919, S. 301. In den Berliner Adressbüchern ist Hanni Schwarz letztmalig 1930 verzeichnet. Hinweise auf ihre Lebensdaten werden dankend entgegengenommen!

Anmerkungen
  1. Helene-Lange-Archiv im Berliner Landesarchiv, LAB A Rep. 060-52 – Verband Fortschrittlicher Frauenvereine , Digitalisat hier.[]
  2. Margarete Friedenthal: Zur Arbeiterinnen-Frage, in: Centralblatt des Bunds deutscher Frauenvereine, 4. JG., Nr. 18 (15.12.1902), S. 138. Die Hervorhebung des Wortes ‚deutsche‘ liegt daran, dass es in dem Text vorher um englische Arbeiterinnen gegangen war.[]
  3. Tätigkeitsbericht der Centralstelle für Arbeiterinnen-Organisation, o. J., LAB A Rep. 060-52 – Verband Fortschrittlicher Frauenvereine[]
  4. Vgl. Dorothee von Velsen: Im Alter die Fülle, Tübingen 1956, S. 114.[]
  5. Vgl. Briefe von Dorothee von Velsen an Martha Dönhoff, 5. und 12. Juni 1941, Nachlass Martha Dönhoff, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit/Archiv des Liberalismus, Signatur N41-10.[]