„Die Busch“ aus der Derfflingerstraße – Margarete Friedenthal (1871-1957)

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Margarete Friedenthal
Margarete Friedenthal (aus: Die Gartenlaube 38/1919, S. 301)

Die Tage war ich im Archiv der Alice-Salomon-Hochschule auf den Spuren einer viel zu unbekannten Berliner Frauenrechtlerin: Margarete Friedenthal, am 9. Juni 1871 in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren, ist ein interessantes Bindeglied zwischen der so genannten „gemäßigten“ und der „radikalen“ bürgerlichen Frauenbewegung.

Als höhere Tochter unterlief sie keine formelle Berufsausbildung, engagierte sich aber als Freiwillige in den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. Jene waren 1893 von der Sozialreformerin Jeannette Schwerin gegründet worden. Sie hatten das Ziel, die Sozialarbeit vom Nimbus der Wohltätigkeit zu befreien und auf professionellere Füße zu stellen. Das Angebot wurde gut angenommen: Die Gruppen wuchsen schnell an und sandten bald einen stetigen Strom an Freiwilligen in Krankenhäuser und Kindergärten. Es gab Aus- und Fortbildungskurse und regelmäßige Vorträge zu sozialen Themen. 

Eine von Friedenthals Kolleginnen war die etwa gleichaltrige Alice Salomon, die nach Jeannette Schwerins frühem Tod im Jahr 1899 die Arbeit der Gruppen fortführte und weiterentwickelte. Auch Margarete Friedenthal übernahm bald Verantwortung: Ihr wurde die Leitung einer Abteilung sowie die Verwaltung eines Kindergartens und eines Horts übertragen.

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Anfänge in der Frauenbewegung

Ende 1899 oder Anfang 1900 trat Margarete Friedenthal in den Verein „Frauenwohl“ ein, der von Minna Cauer geleitet wurde. Die Spaltung der Frauenbewegung in eine „gemäßigte“ Mehrheit und eine „radikale“ Minderheit war gerade dabei, sich zu vollziehen. Minna Cauer gründete mit einigen Mitstreiterinnen (u. a. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann) den „Verband fortschrittlicher Frauenvereine“ (VFF), der sich fortan als Opposition zum fünf Jahre zuvor gegründeten „Bund deutscher Frauenvereine“ (BDF) begriff. Dass von einer „reinlichen Scheidung“ zwischen beiden Richtungen aber nicht ganz die Rede sein kann, zeigt unter anderem das Beispiel der „Busch“, wie ihre Freundinnen und Mitstreiterinnen sie nannten.

Friedenthal hatte zu beiden Organisationen gute Kontakte. Sie war Mitglied (ab 1900) und Leiterin (ab 1905) der „Kommission für Arbeiterinnenschutz“ des BDF; ab 1903 leitete sie zudem die „Centralstelle für Arbeiterinnenorganisation“ des VFF. Beide Gremien führten Untersuchungen zur Situation von Fabrik- und Heimarbeiterinnen durch, leisteten aber auch praktische Unterstützung bei der Gründung von Unterstützungskassen und Beratungsstellen.

Resultat dieses zweigleisigen Engagements war, dass sie bisweilen den einen zu gemäßigt, den anderen zu radikal war. Sie bemühte sich jedoch immer, zwischen beiden Richtungen die Balance zu halten. 1906 nahm sie als Delegierte des radikalen VFF an der ersten Berliner Heimarbeit-Ausstellung teil, während Alice Salomon (mit der sie gemeinsam in der BDF-Kommission arbeitete) die „Gemäßigten“ vertrat. Diese Ausstellung war von bürgerlichen Sozialreformer:innen und Gewerkschaften gemeinschaftlich organisiert worden.

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Mehr als ein Vollzeitjob

1907 brachte sie schließlich beide Vereine sowie diverse andere Akteur:innen zusammen, um die erste verbandsübergreifende „Konferenz zur Förderung von Arbeiterinnen-Interessen“ zu organisieren. Sozialistische und sozialdemokratische Frauen waren eingeladen, hielten sich hier aber mit Ausnahme Lily Brauns auf Distanz (unter anderem, weil sie Friedenthals Engagement für liberale Gewerkvereine kritisierten). Als Einzelpersonen und abseits der Öffentlichkeit waren sie jedoch durchaus zu einer – freilich nicht immer konfliktlosen – Zusammenarbeit bereit. Die Konferenz mündete in den „Ständigen Ausschuss zur Förderung von Arbeiterinnen-Interessen“, den Friedenthal ebenfalls leitete und offenbar auch maßgeblich finanzierte:

„Vorsitzende und spiritus rector und, daß ich es nur sage, finanzielle Trägerin des Ständigen Ausschusses war Margarete Friedenthal, in unserem Kreise bekannt als ‚die Busch‘, ein Name, der ihr aus der ‚Versunkenen Glocke‘ zugeflogen war, die damals überall gespielt wurde. Die Hütte der Buschgroßmutter ist eine Art Herberge, und das Haus von Margarete Friedenthal in der Derfflingerstraße bildete für die Frauenbewegung ein angenehmes Hauptquartier. Bei ungezählten Abendessen und Teenachmittagen waren wir dort versammelt.“

Velsen 1956, S. 113f.
Centralblatt Bund deutscher Frauenvereine
Gründung des „Centralvereins für Arbeiterinnen-Interessen“, Centralblatt des BDF, 15. Sept. 1907.

Derweil hatte Friedenthal die „Centralstelle“ des VFF in einen separaten Verein (den „Centralverein für Arbeiterinnen-Interessen“) umgewandelt. Sie tat dies wohl nicht zuletzt, weil ihr das eine größere Unabhängigkeit vom Vorstand des VFF ermöglichte, mit dem sie die Zusammenarbeit nicht immer ganz einfach fand. Darüber hinaus war es ihr aber auch ein politisches Anliegen: Sie wollte eine Organisation schaffen, die keinem bestimmten Flügel der Frauenbewegung zugeordnet sein sollte. Margarete Friedenthal wollte integrieren. Dass sie dabei auch noch gute Managementqualitäten aufwies, bescheinigt ihr Dorothee von Velsen, die ebenfalls über die Sozialarbeit zur Frauenbewegung gestoßen war:

„Der Busch verdanke ich die Technik der Organisationsarbeit. Die Regeln sind sehr einfach: jede Anregung prüfen, jedem Mitarbeiter etwas zu tun geben, alle Fähigkeiten verwenden, niemals einen Brief unbeantwortet lassen.“

Velsen 1956 (s.u.), S. 115.

In der Frauenbewegung strebte Friedenthal nie ein Amt im Rampenlicht an. Dafür hatte sie umso mehr Ämter hinter den Kulissen: Neben ihren diversen Vorsitzendenämtern in den Kommissionen für Arbeiterinnenangelegenheiten war sie Vorsitzende des Octavia-Hill-Vereins; sie saß mehrere Jahre lang im Vorstand des Vereins „Frauenwohl“, der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, des Vereins Arbeiterinnenheim sowie des Ortsvereins der arbeitenden Mädchen und Frauen zu Berlin. Alle Tätigkeiten waren unentgeltlich – man kann davon ausgehen, dass sie zusammengenommen leicht einen Vollzeitjob ergaben. So verwundert vielleicht auch nicht, dass es ihr zeitweilig ein wenig viel wurde: Um 1905/06 verzeichnet ihre Lebensgefährtin Anna Pappritz in ihrem Tagebuch, dass Friedenthal oft „elend“ und „nervös“ war. Mehrmals verbrachte sie um jene Zeit einige Wochen in Sanatorien, bis um 1907 das Gleichgewicht wiederhergestellt war.

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Veränderungen

Dass es ihr in der Folge wieder besser ging, lag vielleicht auch an einer Luftveränderung. Friedenthal, die ebenfalls gut mit den Münchner Frauenrechtlerinnen Ika Freudenberg und Sophia Goudstikker befreundet war, verbrachte die Winter 1907 und 1908 in München und half dort beim Aufbau einer Organisation für Arbeiterinnenfragen. Ika Freudenberg war Vorsitzende des heute noch existierenden Vereins für Fraueninteressen und lebte mit ihrer Lebensgefährtin Sophia Goudstikker in der Königinstraße am Englischen Garten. Friedenthal hatte sich um die Ecke in der Pension Euchler in der Ludwigstraße 22a eingemietet und wird für 1908 als Mitglied des Vereins für Fraueninteressen geführt.

Gertrud Bäumer, Vorsitzende des BDF und enge Freundin Ika Freudenbergs, bescheinigt der Münchner Frauenbewegung eine deutlich entspanntere Atmosphäre als der Berliner. Vielleicht war das auch für Friedenthals Erholung nicht gerade von Nachteil.

„Wenn ich nun von München spreche, so geschieht es nicht nur als von dem farbigsten, schwungvollsten und reichsten Lebensring, zu dem irgendwo die Frauenbewegung zusammenwuchs.“

Bäumer 1933 (s.u.), S. 180.

1919 wurde Margarete Friedenthal für die Demokraten (später DDP) in die Stadtverordnetenversammlung für Berlin gewählt, der sie bis 1929 angehörte.

In den 1920er Jahren schmolz im Zuge der Inflation ihr (zuvor beträchtliches) Vermögen rapide zusammen. Friedenthal, die keine Berufsausbildung hatte, nahm nun Untermieter in Pension. Nach 1933 wurde es für die mittlerweile über 60jährige zunehmend schwierig, über die Runden zu kommen. Es gelang ihr mit vier Untermieterinnen und dank der Altershilfe der deutschen Frauenbewegung. Dieser Verein hatte sich 1923 gegründet, um in Not geratenen Vorkämpferinnen der Frauenbewegung finanziell unter die Arme zu greifen. Ein Dokument des Berliner Frauenbunds von 1945  legt nahe, dass die Altershilfe nach dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich am Leben gehalten wurde, um die aus Schlesien geflohene Gertrud Bäumer und die mittlerweile fast mittellose Margarete Friedenthal zu unterstützen.

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Lebensabend

Friedenthal, deren Großeltern vom Judentum zum Protestantismus konvertiert waren, überlebte die Nazizeit offenbar unbehelligt. Frauenbewegungsarbeit war nach 1933 nicht mehr möglich; auch schwindende Kräfte und materielle Schwierigkeiten banden sie nun zunehmend ans Haus. Und es gab noch einen Einschnitt: 1939 starb Anna Pappritz während eines gemeinsamen Sommerurlaubs bei Pappritz‘ Familie im ostbrandenburgischen Radach (heute Radachów). Eins der wenigen noch existierenden Zeugnisse ihrer Trauer ist ein Brief Margarete Friedenthals an einen Mitstreiter in Pappritz‘  „Bund für Frauen- und Jugendschutz“: 

„Sehr verehrter Herr Geheimrat, für Ihre Teilnahme an dem schweren Verlust, den wir alle durch das Hinscheiden meiner geliebten Freundin erlitten haben, danke ich Ihnen herzlich. […] Ich weiß, daß Sie um diesen wundervollen Menschen, der Charakterstärke und ungewöhnliche Klugheit mit warmer Herzensgüte verband, mit mir trauern und ihn oft schmerzlich vermissen werden. […] Von meinem Schmerz und Entbehren kann ich nicht reden. Ich muß eben weiterleben.“

Margarete Friedenthal an Wolfgang Mittermaier, 22. Juli 1939, NL Mittermaier (s.u.), Heid. Hs. 3443,64.

Sie war nun allein. Die Weggefährtinnen, von denen sie viele selbst in die Frauenbewegungsarbeit eingeführt hatte, blieben ihr jedoch als Freundinnen treu. Die Schriftstellerin Dorothee von Velsen war darunter, die Politikerin Marie-Elisabeth Lüders und die Frauenrechtlerin Agnes von Zahn-Harnack. Wie verbunden die jüngeren Frauen ihr waren, zeigt sich in dem Geschenk, das sie Friedenthal zu ihrem 70. Geburtstag machten. Dorothee von Velsen und die rheinisch-westfälischen Frauenrechtlerinnen Martha Poensgen und Martha Dönhoff organisierten eine Spendenaktion im Bekanntenkreis. Insgesamt kamen 1.700 Mark zusammen – fast zehn durchschnittliche Monatslöhne eines Arbeiters.

Am 9. Januar 1957 starb Margarete Friedenthal in Berlin. Sie war 85 Jahre alt geworden.

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Aber enden wir mit einer Rückblende mitten ins Leben. Als Margarete Friedenthal und Anna Pappritz sich 1899 im Alter von 28 und 38 Jahren kennenlernten, waren sie beide gerade dabei, in der Frauenbewegung Fuß zu fassen. Dabei wurde bei weitem nicht nur zusammen gearbeitet: Pappritz dokumentiert in ihrem Tagebuch zahlreiche Ausflüge, auch „famose Radtouren“ ins Berliner Umland. Die Bedeutung dieser Streifzüge in einer Gemeinschaft, die einen Resonanzraum außerhalb der Herkunftsfamilie bot, ist nicht zu unterschätzen. Ebenso wie vielen anderen Selbstzeugnissen von Frauenrechtlerinnen jener Zeit ist auch Anna Pappritz‘ Tagebuch ein förmliches Aufblühen zu entnehmen, wenn sie im Kreise Gleichgesinnter ihren körperlichen wie geistigen Horizont erweiterte und nebenbei ganz neue sportliche Fähigkeiten an sich entdeckte – und besonders schön war es immer, wenn auch „Frl. Friedenthal“ mit von der Partie war.

Eine wohl mit einiger Spannung erwartete neue Etappe in der Zweierbeziehung markierte Pappritz in ihrem Tagebuch am Karfreitag 1900. Es handelt sich um einen kleinen Nachsatz in stenografischen Kürzeln, den Pappritz-Biografin Kerstin Wolff 2017 entzifferte: „Seit ihren Ferien sind wir befreundet!“ (Wolff 2017, S. 244). Bei aller Zurückhaltung der Formulierung darf man das mit Sicherheit als einschneidendes Erlebnis deuten. Und wenngleich es noch 33 Jahre dauern sollte, bis die beiden – aus letztlich wirtschaftlichen Gründen – in einer gemeinsamen Wohnung lebten, galten „die Busch“ und „die Pappritzin“ fortan auch in der Berliner Frauenbewegung und in den jeweiligen Familien als Einheit. Freilich mussten bei zwei selbstständigen Frauen, die ihre immerhin hart erkämpfte Unabhängigkeit hoch schätzen gelernt hatten, Fragen von Nähe und Distanz gelegentlich noch einmal austariert werden. Vielleicht schafften sie es aber gerade durch diese Verhandlungsbereitschaft, sich ein Lebensmodell zu erarbeiten (und sicher manchmal auch zu erstreiten), das ihren über 40 Jahre hinweg Liebe, Geborgenheit und Freiheit gab.

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Quellen und Literatur:

  • Arbeit der Zentralstelle für Arbeiterinnen-Interessen, Nachlass Verband fortschrittlicher Frauenvereine, Landesarchiv Berlin, Signatur LAB A Rep. 060-52 MF Nr. 4244-4255.
  • Bäumer, Gertrud: Lebensweg durch eine Zeitenwende, Tübingen 1933.
  • Berliner Frauenbund 1945 e.V.: Historisch-chronologische Daten der Altershilfe, Nachlass Isa Gruner, Landearchiv Berlin, Signatur LAB B Rep. 235-10 MF Nr. 238.
  • Centralblatt des Bunds deutscher Frauenvereine, Jg. 1900-1907.
  • Friedenthal, Margarete: Brief an Wolfgang Mittermaier, Nachlass Wolfgang Mittermaier, Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur Heid. Hs. 3443,64.
  • Ichenhäuser, Eliza: Bilder vom Internationalen Frauen-Kongress, Berlin 1904.
  • Jahresberichte der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit 1899-1907, Alice-Salomon-Archiv, Signatur B.2.
  • Pappritz, Anna: Tagebuch, Nachlass Anna Pappritz, Landesarchiv Berlin, Signatur LAB B Rep. 235-13 MF Nr. 3466-3467.
  • Velsen, Dorothee von: Brief an Martha Dönhoff, 5. und 12. Juni 1941, Nachlass Martha Dönhoff, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit/Archiv des Liberalismus, Signatur N41-10.
  • Velsen, Dorothee von: Im Alter die Fülle, Tübingen 1956.
  • Verein Aktives Museum: Vor die Tür gesetzt. Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933-1945, Berlin 2006.
  • Verein für Fraueninteressen: Fünfzehnter Jahresbericht (Geschäftsjahr 1908/09), München 1909.
  • Wolff, Kerstin: Anna Pappritz. Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach/Ts. 2017.

Bildquelle: Margarete Friedenthal, fotografiert von Hanni Schwarz (Lebensdaten unbekannt), zu: Emma Stropp: Frauen als Stadtverordnete, in: Die Gartenlaube, Heft 38/1919, S. 301. In den Berliner Adressbüchern ist Hanni Schwarz letztmalig 1930 verzeichnet. Hinweise auf ihre Lebensdaten werden dankend entgegengenommen!

Zuletzt aktualisiert: 25. April 2021.

Zitiervorschlag: Walther, Bianca: ‚Die Busch‘ aus der Derfflingerstraße, 26. November 2019, https://biancawalther.de/margarete-friedenthal [abgerufen am DATUM].