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„Es ist so was Lebendiges drum“ – Die Frauenrechtlerin Ika Freudenberg (1858-1912)

„Es ist so was Lebendiges drum“ – Die Frauenrechtlerin Ika Freudenberg (1858-1912)

„Es ist so was Lebendiges drum.“
Ika Freudenberg (1858-1912) und die Münchner Frauenbewegung

Ika Freudenberg war eine der beliebtesten Persönlichkeiten der bürgerlichen Frauenbewegung. Diplomatisch geschickt und mit einer guten Dosis Humor ausgestattet, an Menschen ebenso interessiert wie an großen Ideen, kam sie mit Kellnerinnen genauso gut aus wie mit Politikern. Ein Porträt.

Am 10. Januar 1912 verbreitete sich in der deutschen Frauenbewegung eine Nachricht wie ein Lauffeuer: Ika Freudenberg war tot. Im Alter von 53 Jahren war sie in der Nacht des 9. Januar ihrem Brustkrebsleiden erlegen. In den folgenden Tagen waren die Frauenzeitschriften und die progressive Tagespresse voll von Nachrufen, die das Bild einer Frau vermitteln, die nicht nur als frauenbewegte Aktivistin, sondern auch als Mensch sehr geschätzt wurde. Die Schriftstellerin Gabriele Reuter schrieb in der Berliner Tagesillustrierten Der Tag:

„Wie verstand sie mit unermüdlicher Geduld, Herzlichkeit und Humor in den Anfängen der Bewegung dem Unverständnis standzuhalten, die Trägen mit dem Blitzgefunkel ihrer Rede aufzurütteln, die Oberflächlichen in die Tiefe zu führen, den Kleinlichen die Größe und Weite ihrer Ziele zu entrollen, die Zanksüchtigen, Ehrgeizigen durch die Urbanität und Selbstlosigkeit ihres Wesens zu entwaffnen. […]

Es wäre zu wenig, wenn ich sagen wollte: ‚Die Frauensache hat einen unersetzlichen Verlust erlitten.‘ Das deutsche Vaterland hat eine seiner besten Bürgerinnen verloren.“

Gabriele Reuter, Ika Freudenberg †, in: Der Tag. 20. Januar 1912.

Beschäftigt man sich heute mit der Geschichte der Frauenbewegung, muss man wahrscheinlich eine ganze Weile lesen, bis man das erste Mal auf Ika Freudenberg stößt. Selbst in den Standardwerken ist sie oft wenig mehr als ein Name. Wer war diese so beliebte und aufrichtig betrauerte Frau, die heute kaum noch jemand kennt?

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Vom Westerwald nach Wiesbaden

Ika Freudenberg (die eigentlich Friederike hieß) kam aus dem Westerwald, genau: aus Raubach bei Neuwied. Ihr Vater war Hüttenbesitzer gewesen. In den 1860er Jahren gingen die Geschäfte allerdings dort immer schlechter. Der Westerwald war mittlerweile so abgeholzt, dass er seinen Namen kaum noch verdiente. Die Holzkohle, die zum Betreiben der Hochöfen gebraucht wurde, wurde immer teurer. Auf die modernere und effizientere Steinkohle umzurüsten lohnte nicht, weil die Kohlereviere an der Ruhr zu weit entfernt lagen.

Johann Philipp Freudenberg hatte die Zeichen der Zeit früh genug erkannt: 1866 gab er den noch laufenden Betrieb an einen Kompagnon ab und ließ sich mit seiner Familie in Wiesbaden nieder. Wiesbaden galt als „Rentnerstadt“. Dort war nicht viel los, aber die Lebensqualität war hoch. Für ein 15- oder 16jähriges Mädchen mag das Leben in der Stadt vielleicht etwas zu geruhsam gewesen sein, aber Ika hatte Glück: Die Familie war aufgeschlossen und bildungsorientiert, und so bekam Ika, anders als viele andere junge Mädchen des gehobenen Bürgertums, die Möglichkeit zu einer Berufsausbildung: Wahrscheinlich am ca. 1870 gegründeten Konservatorium ihres älteren Bruders Wilhelm studierte sie Klavier. Von öffentlichen Aufritten ist nichts bekannt, wohl aber, dass sie Unterricht an einem Konservatorium erteilte.

Der Weg ins eigene Leben

Zunächst zog Ika Freudenberg wieder bei ihren Eltern ein. Irgendwann, vermutlich, als sie um die 30 war, war ihr jedoch danach, die Wohnsituation etwas zu verändern. Und so zog bei Muttern aus (der Vater war mittlerweile verstorben) und bei ihrer besten Freundin Emmy ein.

Das mag pragmatische Gründe gehabt haben. Emmy Preußer lebte allein in der Parterrewohnung einer Stadtvilla in der Kapellenstraße, in der die Freudenbergs die obere Etage gemietet hatten. Sie hatte die Villa zusammen mit ihren Brüdern geerbt; die Eltern waren verstorben, kurz bevor die Freudenbergs dort einzogen. Es ist gut möglich, dass die Familien sich schon vorher kannten: Die Preußers stammten zwar aus Eschweiler bei Aachen, hatten aber ebenso wie die Freudenbergs familiäre Verbindungen nach Neuwied.

Als Johann Philipp Freudenberg im Jahr 1890 starb, gab seine Witwe Caroline die Wohnung auf und zog zu ihrem Sohn und dessen Familie einige Häuser weiter. Ika selbst mag keinen großen Reiz darin gesehen zu haben, bei Bruder und Schwägerin einzuziehen; vielleicht war in der Wohnung des Bruders aber auch schlicht kein Zimmer mehr frei. Was lag da näher, als bei Emmy Preußer einzuziehen? Die beiden waren gleich alt, verstanden sich gut, und Emmy hatte Platz. Es wird auch überliefert, dass Emmy Preußer zu jener Zeit bereits krank war. Woran sie gelitten hatte, ist nicht bekannt, aber wenn es stimmt, mag eine Wohnungsgenossin besonders willkommen gewesen sein.

Inwieweit Letzteres aber zutrifft, wissen wir nicht. Emmy Preußer starb sehr früh und wurde in der Tat bis zum Schluss von Ika Freudenberg gepflegt. Sie könnte aber um 1890 noch recht mobil gewesen sein. Gemeinsam mit Ika Freudenberg begann sie nämlich zu jener Zeit, sich in der Frauenbewegung zu engagieren. 1892 oder 1893 (vielleicht auch in beiden Jahren) nahm mindestens Ika Freudenberg, möglicherweise aber auch Emmy Preußer, an der Jahresversammlung des Vereins Frauenbildungsreform teil, die jeweils in Wiesbaden stattfand. Dass Emmy Preußer dort Mitglied war, geht aus einer Unterschriftenaktion hervor, bei der auch ihr Name auftaucht.

Vielleicht brauchte Emmy Preußer Assistenz, vielleicht aber auch (noch) nicht. Wie dem auch sei – einen Hinweis gibt es, dass die beiden nicht nur aus praktischen oder karitativen Gründen zusammenlebten: 1893, einen Monat nach dem Tod von Ika Freudenbergs Mutter Caroline, machten sie sie ein gemeinsames Testament. Das klingt nun nicht nach einem reinen Zweck-WG-Arrangement.

Anfänge in der Frauenbewegung

Bildungschancen für Frauen und Mädchen waren zu jener Zeit eins der großen Themen der bürgerlichen Frauenbewegung. Von allen deutschen Gliedstaaten durften in den 1890ern nur im fortschrittlichen Großherzogtum Baden Mädchen höhere Schulen besuchen. Überall sonst war spätestens nach der Töchterschule Schluss – also mit 15 Jahren. Eventuell konnte ein Mädchen danach noch für zwei oder drei Jahre ein Lehrerinnenseminar besuchen; mit Glück und Talent war für manche auch eine künstlerische oder musikalische Ausbildung drin – wie es bei Ika Freudenberg der Fall gewesen war.

Zum Studium allerdings waren Frauen in Deutschland noch lange nicht zugelassen. Einige wenige Frauen studierten in der Schweiz – die anderen waren für intellektuelle Bestrebungen auf Privatunterricht und Selbststudium angewiesen. Einen akademischen Grad gab es dafür natürlich nicht. Ika Freudenberg zum Beispiel interessierte sich zeitlebens für Philosophie. In ihren Schriften ist das auch erkennbar. Sie hatte sich jedoch alles, was sie wusste, selbst beibringen müssen. Dass sie nie über das Autodidaktinnentum hinausgekommen war, sollte ihr ganzes Leben lang an ihr nagen.

Immerhin ein Gutes hatte die Sache mit der Bildungsmisere aber doch: Das Engagement für die Mädchenbildung brachte Ika Freudenberg und Emmy Preußer nämlich in Kontakt mit zwei ausgesprochen interessanten Persönlichkeiten, von denen eine noch eine gewisse Rolle in Ika Freudenbergs Leben spielen und die andere eine der bekanntesten deutschen Frauenrechtlerinnen überhaupt werden sollte: Sophia Goudstikker und deren Lebensgefährtin Anita Augspurg.

Nach München!

Vielleicht war es dieser Kontakt, der Ika Freudenberg und Emmy Preußer 1894 dazu bewegte, ihre Wiesbadener Zelte abzubrechen und nach München zu gehen. Sie zogen in die Maxvorstadt an den Rand des Englischen Gartens – direkt in die Nachbarschaft von Goudstikker und Augspurg, die in der Kaulbachstraße lebten. Noch im selben Jahr gründeten Freudenberg, Augspurg und Goudstikker einen Verein: die Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau. Dieser Verein musste zwar zweimal umbenannt werden, bis er einen einigermaßen griffigen Namen hatte, aber als Verein für Fraueninteressen existiert er immerhin noch heute. Ika Freudenberg wurde die erste Vorsitzende.

Der „kleine Verein mit dem langen Namen“, wie der Satiriker Ernst von Wolzogen ihn nannte, wuchs schnell. Bald gab es nicht nur regelmäßige Vortrags- und Diskussionsabende, sondern auch eine Stellenvermittlung für weibliche Lehrlinge, eine Rechtsberatungsstelle für Frauen und eine Jugendgruppe, die Ika Freudenberg besonders am Herzen lag. Auch die Mitgliederzahlen schnellten in die Höhe. Kommissionen wurden gebildet – zum Beispiel eine zur Situation von Fabrikarbeiterinnen, die oft weniger als die Hälfte ihrer männlichen Kollegen verdienten, oder von Heimarbeiterinnen, denen es noch schlechter ging.

Ika Freudenberg und die Sache der Kellnerinnen

Besonders am Herzen lag Ika Freudenberg die Sache der Kellnerinnen. Die Arbeitsbedingungen in den bayerischen Wirtshäusern waren katastrophal. Zu langen Schichten bei schlechter Bezahlung kamen körperliche Belastung und immer wieder sexuelle Belästigung. Der Verein für Fraueninteressen unterstützte daher Veranstaltungen, in denen Kellnerinnen sich nach ihrer Arbeit – also mitten in der Nacht – treffen konnten, um gemeinsam mit den Arbeitgebern ihre Belange zu besprechen und sich zu organisieren. Die Berliner Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer, die oft bei Ika Freudenberg zu Besuch war, beschreibt eine der Sitzungen wie folgt:

„Ich sehe sie noch anrücken: die vom Franziskaner, die vom Salvator, die vom Hofbräu (mit ehrfürchtigem Flüstern begrüßt). Die kleinen Abwaschmädel mit den weißen Schürzen. Reden taten sie unbefangen und kräftig, die Wirte nicht minder. Neugierige Stammgäste waren reichlich vertreten. Auch Elemente aus den Animierkneipen und dem Zuhältertum. So wurde die Sache ziemlich lebhaft.“

Gertrud Bäumer: Gestalt und Wandel. Frauenbildnisse. Berlin 1939, S. 425.

Die Initiative führte zur dazu, dass eine Kellnerinnengewerkschaft gegründet wurde. Noch Jahre später war Ika Freudenberg stolz darauf, dass das gelungen war. Gertrud Bäumer erzählt, wie Freudenberg beim Wandern in den Alpen einmal von einer Gruppe Kellnerinnen angesprochen wurden, die ihr herzlich für ihr Engagement dankten. Es habe „etwas bezweckt“. Eine größere Genugtuung konnte es für Ika Freudenberg kaum geben.

Natürlich bemühte sich der Verein aber auch um Außenwirkung. Man wollte bekannt machen, wie vielfältig und aktiv die Frauenbewegung auch im katholischen Bayern mittlerweile war, wie viele Fraueninitiativen und frauengeführte Betriebe es mittlerweile gab. 1899 kündigte der Verein also an, einen groß angelegten „Bayerischen Frauentag“ veranstalten zu wollen. Zunächst schlug ihm Skepsis entgegen. Würde so ein Kongress im konservativen Bayern auf Publikumsinteresse stoßen?

Er tat es. Der Bayerische Frauentag wurde zu einem Riesenerfolg, zog zahlreiche Besucherinnen und Besucher an und wurde auch durchaus wohlwollend in der Tagespresse besprochen.

Für Ika Freudenberg hieß das, dass ihr Arbeitspensum weiter kräftig anstieg. Sie wurde zu einer beliebten Vortragsrednerin, und auch im Bund deutscher Frauenvereine – dem 1894 gegründeten Dachverband der deutschen Frauenbewegung – war sie mit ihrem Humor und ihrem diplomatischen Geschick als Kandidatin für Ämter und Mandate gefragt.

Emmy Preußers Tod

Privat gab es dagegen Anlass zur Sorge: Emmy Preußers Gesundheitszustand hatte sich drastisch verschlechtert. Im November 1898 schrieb Ika Freudenberg an die Vorsitzende des Bunds deutscher Frauenvereine, Auguste Schmidt:

„Ihr werter Brief […] trifft mich zu einer Zeit, wo ich wieder vier Fünftel des Tages durch Krankenpflege in Anspruch genommen bin.“

(Ika Freudenberg an Auguste Schmidt, 8.11.1898)

Wenige Monate später war Emmy Preußer tot. Wohl in Vorahnung dessen hatte sie das gemeinsame Testament aus dem Jahr 1893 durch ein neues ersetzt, in dem sie Ika Freudenberg die gemeinsame Wohnungseinrichtung nebst einem Legat von 33.000 Mark vermachte. Zur Einordnung: Allein die Zinsen, die dieser Betrag abwerfen konnte, überstiegen den Durchschnittslohn eines Facharbeiters. Emmy Preußer war äußerst gut situiert, und sie wollte, dass Ika Freudenberg etwas davon abbekam:

„Seit Jahren führe ich mit meiner Freundin, Fräulein Friederike Freudenberg aus Wiesbaden, […] eine gemeinschaftliche Haushaltung. Während der ganzen Zeit unseres Zusammenlebens hat mir meine Freundin fortgesetzt Gutes erwiesen, mich in liebevollster Weise gepflegt, und dadurch vielfach verabsäumt, für sich selbst zu sorgen.“

Testament Emmy Preußer, 21.6.1897

Bemerkenswert ist eine Klausel, mit der sie offenbar dafür sorgen wollte, dass das Geld auch bei der Gefährtin ankam und jene sich nicht etwa genötigt sah, das Vermächtnis zugunsten anderer Begünstigter auszuschlagen. Während andere Legate im Testament im Fall der Ausschlagung an ein Taubstummeninstitut fallen sollten, drohte Emmy Preußer der Lebensgefährtin damit, dass das Geld – wenn sie es nicht annähme – an denjenigen Menschen in Deutschland gehen sollte, der es wohl am allerwenigsten nötig hatte:

„Sollte sie […] dieses Legat ausschlagen, so vermache ich die zur Dotierung des Legats verwendete Summe von Mk. 33.000,- Seiner Majestät dem zur Zeit meines Todes regierenden deutschen Kaiser, König von Preußen.“

Testament Emmy Preußer, 21.6.1897

Über Emmy Preußer wissen wir so gut wie nichts. Ihr Name findet sich gemeinsam mit Ika Freudenbergs auf einer Unterschriftenliste zur Unterstützung einer zu Unrecht inhaftierten Schweizer Frauenrechtlerin; er steht auf der Mitgliederliste des ‚kleinen Vereins mit dem langen Namen‘. Viel mehr ist nicht bekannt. Aber auch wenn sie für uns eine Unbekannte bleiben muss: Dass sie Sinn für Humor hatte, lässt das Testament immerhin erahnen.

Umzug

Nach Emmy Preußers Tod kam Ika Freudenberg kaum zum Durchatmen. Der Frauentag musste organisiert werden, und auch ihre Vortragstätigkeit nahm sie sofort wieder auf. Dazu kam eine Veränderung in den Wohnverhältnissen: Im Sommer 1899 löste sie die Wohnung in der Giselastraße auf, die sie gemeinsam mit der Freundin bewohnt hatte, und zog zu Sophia Goudstikker in die Königinstraße, gleich am Südende des Englischen Gartens. Eigentlich hatte Goudstikker dort mit Anita Augspurg einziehen wollen. Das wurde jedoch abgeblasen: Die beiden Frauen hatten beschlossen, getrennte Wege zu gehen. Anita Augspurg, die mittlerweile in Zürich studiert und zeitweilig in Berlin gelebt hatte, zog irgendwann mit der Hamburger Frauenrechtlerin Lida Gustava Heymann wieder in Kaulbachstraße und dann aufs Land – und Ika Freudenberg zog mit Goudstikker in die Königinstraße 3a. Heute befindet sich dort das amerikanische Konsulat.

Sophia Goudstikker betrieb schon seit längerem in der Von-der-Tann-Straße ein beliebtes und erfolgreiches Fotoatelier. Sie war bestens vernetzt. Und so wurde das Wohnzimmer in der Königinstraße bald zu einem Treffpunkt, in dem sich Frauenrechtlerinnen und Schwabinger Bohème die Klinke in die Hand gaben. Der Satiriker Ernst von Wolzogen gehörte ebenso zu den Gästen wie die Schriftstellerinnen Ricarda Huch und Gabriele Reuter.

„Den persönlichen Mittelpunkt bildete das Haus von Sophie Goudstikker, […] in das Ika Freudenberg nach dem Tode ihrer Freundin übersiedelte. […] Dieses kleine lebendige Haus, mit der kecken Laune seines Schmucks, es war die eigene Welt einer schaffenden Frau, auf eigenem Grunde erarbeitet, aus eigenstem Stil gestaltet, Zeugnis von freudiger unabhängiger Lebenskraft und feuriger Schönheitsliebe.“

Gertrud Bäumer: Gestalt und Wandel, Frauenbildnisse, Berlin 1939, S. 417.

Zu diesem Haushalt gehörte ab 1899 also auch Ika Freudenberg. Zunächst zog sie ins Obergeschoss, während Goudstikker die beiden unteren Etagen bewohnte – aber irgendwann wurden die Übergänge zwischen den Etagen wohl fließend.

Freundinnen: Sophia Goudstikker und Gertrud Bäumer

Sophia Goudstikker war die Tochter eines Amsterdamer Kunsthändlers. 1865 geboren, war sie sieben Jahre jünger als Ika Freudenberg. Neben ihrem Fotoatelier betrieb sie sehr erfolgreich die Rechtsberatungsstelle des Vereins für Fraueninteressen (der neue Name ging übrigens auch auf sie zurück) und engagierte sich für Kinder in Not. So mancher Fälle nahm sie sich nicht nur administrativ, sondern ganz praktisch und persönlich an. Zu Kongressen reisten Ika Freudenberg und „Puck“, wie Goudstikker genannt wurde, oft gemeinsam; in Berlin trafen sie sich gern mit den Frauenbewegungskolleginnen Anna Pappritz und Margarete Friedenthal, die sie 1899 bei einer Verbandstagung in Dresden kennengelernt hatten.

Nicht immer trat das Paar Goudstikker-Freudenberg jedoch im Doppelpack auf. In der Frauenbewegung arbeiteten sie gemeinsam, aber oft an verschiedenen Projekten; Goudstikker betrieb zudem nach wie vor das Fotoatelier, das sie mit Anita Augspurg gegründet hatte. Und schließlich pflegten beide Frauen auch getrennte Freundschaften, die ihnen wichtig waren und die sie einander offenbar auch gönnten.

So hatte Freudenberg um 1904 die Berliner Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer kennengelernt. Bäumer, die selbst in Berlin mit der Pädagogin Helene Lange zusammenlebte, genoss das unkonventionelle Umfeld in der Königinstraße und kam mehrmals im Jahr auf Besuch oder unternahm Kurztrips mit Freudenberg in die nahe gelegenen Alpen. 1905 erfüllten sich die beiden Frauen gemeinsam einen lang gehegten Wunsch und machten eine mehrwöchige Rundreise durch Italien – auf Goethes Spuren. Gertrud Bäumer war 31 und hatte gerade laudabile über Goethe promoviert; Ika Freudenberg hatte soeben ihren 47. Geburtstag gefeiert.

Diagnose: Brustkrebs

Es sollte Ika Freudenbergs letzte unbeschwerte Reise werden. Wenige Wochen nach der Rückkehr wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Anfang 1906 unterzog sie sich einer Brustamputation.

„Ika geht es verhältnismäßig gut, sie ist gestern aus der Klinik nach Hause gekommen. Der ‚bakteriologische Befund‘ […] scheint doch relativ günstig zu sein, so daß man nicht, wie Puck zuerst, an das Schlimmste zu denken hat. […] Jedenfalls darf man hoffen, daß mit der Operation, die allerdings sehr eingreifend hat sein müssen, die Sache behoben ist.“

Gertrud Bäumer an Marianne Weber, 4. April 1906

Den Lebensmut ließ Freudenberg sich davon jedoch nicht nehmen. Sie arbeitete weiter mit fast ungebrochener Intensität in der Frauenbewegung, und auch ihr Humor blieb ihr erhalten. Aus einem Kurzurlaub mit Bäumer in Hohenschwangau schrieb sie gemeinsam mit jener an die befreundete Soziologin Marianne Weber:

„Nun zum Schluß, liebe Frau Weber, noch einen Vorschlag zum Guten: Pfeifen wir auf die ganze Frauenbewegung […] und nisten wir uns irgendwo am Busen der Natur ein. Glauben Sie mir, ein Busen ist was Schönes, ich muß das wissen, nach dem Gesetz, daß man erst die verlornen Dinge erst recht schätzt: Bitte dies Prachtbeispiel von Galgenhumor zu würdigen.“

Ika Freudenberg und Gertrud Bäumer an Marianne Weber, undatiert

Ika Freudenberg hatte die Gabe, schöne Momente in aller Tiefe auszukosten. Freilich gab es auch Momente der Verzweiflung, die sie unter anderem in lyrischen Texten verarbeitete. Eins ihrer Gedichte, von Gertrud Bäumer in ihrem Buch Gestalt und Wandel überliefert, beginnt mit den Worten „Mir träumt, ich wär‘ gestorben“ und handelt davon, wie Freudenberg von einem Engel davongetragen wird und noch ein letztes Mal auf die Erde zurückblickt.

Letzte Jahre

Ika Freudenberg arbeitete weiter, solange es ihre Kraft zuließ. Bis Ende 1911 leitete sie noch Versammlungen – auch wenn ihre Stimme manchmal versagte und Gertrud Bäumer dann für sie übernahm. Im Dezember verschlechterte sich ihr Zustand jedoch so stark, dass das Ende absehbar wurde. Bäumer war noch einmal aus Berlin angereist:

„Ich bin hier, um in Ikas Nähe zu sein, deren Krankheit seit etwa 14 Tagen in ein neues Stadium getreten ist. Man kann nun nur aus tiefster Seele hoffen, daß eintritt, was jeden Augenblick erwartet wird: ein Blutgerinnselerguß, der sie erlöst. Man kann an gar nichts anderes denken […] neben dem verzweifelten Wunsch, daß dies aufhören möge. —„

Gertrud Bäumer an Marianne Weber, 29.12.1911

Zehn Tage später war Ika Freudenberg tot.

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Aber enden wir mit einem Blick zurück ins Leben. Wenn Ika Freudenberg nämlich eines war, dann lebensfroh. Ihre Briefe, in fein geschwungener Kurrentschrift verfasst, vermitteln eine Vorstellung davon. Leider sind sie in alle Himmelsrichtungen verstreut, da es von Ika Freudenberg keinen Nachlass gibt. Das ist bedauerlich – aber um 1900 war es nicht selten so, dass die Nachlässe von Frauen, so politisch aktiv sie gewesen sein mochten, nicht für bewahrenswert gehalten wurden. Glücklicherweise korrespondierte Freudenberg mit vielen Frauenrechtlerinnen und anderen prominenten Zeitgenoss:innen, so dass immerhin in den Nachlässen etwa des Bunds deutscher Frauenvereine, von Ricarda Huch und auch der oben genannten Anna Pappritz noch einige ihrer Briefe zu finden sind.

Mit einem solchen wollen wir hier enden. Er ist aus dem Jahr 1901 und eine Antwort auf einen Brief von Anna Pappritz, der zwar leider nicht überliefert ist, aber wohl in der Königinstraße auch schon für einige Erheiterung gesorgt hatte.

Liebster Pappermann, ich hätte Ihnen längst geantwortet, nachdem ich Ihre famose Zuschrift vielfach verlesen, zuletzt in unserer Schluß-Vorstandssitzung, die gemütlich im Garten unter schönen alten Bäumen bei einer Erdbeerbowle stattfand (o süddeutsche Zuchtlosigkeit!) […] [Heute wurde ich] auf  eine höchst unsinnigliche Weise an Sie erinnert […]. An einem Orte, den der Anstand zu nennen verbietet, fand ich zu meinem Staunen ein Exemplar der Berliner Frauenzeitung mit […] Ihre[r] Besprechung der Dresdener Bundestage. Es ergriff mich mächtig, daß Sie mir die Ehre erweisen, meinen Vortrag geistreich zu nennen u. neuen Thatendranges voll verließ ich die stille Klause. Welch seltsame Fügung! Und welche fruchtbare Anregung! Wäre es nicht gut, dieses Lokal und die aufnahmefähige Stimmung seiner Besucher für unsere Zwecke auszunutzen? […] Etwa einen Automaten, aus dem man je nach Bedarf ein Stück Rede von Lenchen Bonfort, […] ein Lispeln von Minna [Cauer], oder ein Gedröhn von Anita [Augspurg] herausziehen könnte! Ach Gott!

Ika Freudenberg an Anna Pappritz, 3. Juli [1901]

Ob die Frauenbewegung Ikas Freudenberg „fruchtbare Anregung“ aufnahm und tatsächlich feministische Redenspender auf öffentlichen Toiletten installierte, ist nicht überliefert. Vielleicht befürchtete man auch, dass eine solche Aktion für längere Schlangen vor Damentoiletten gesorgt hätte …

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Aus der öffentlichen Erinnerung ist Ika Freudenberg so gut wie verschwunden. Immerhin wurde in München-Riem 2004 eine Straße nach ihr benannt. Vielleicht ziehen ihr Heimatort Neuwied und ihr früherer Wohnort Wiesbaden ja irgendwann einmal nach. Und vielleicht tragen Projekte wie #FemaleHeritage dazu bei, dass die Frauen (nicht nur) der Frauenbewegung ein wenig aus dem Schatten heraustreten dürfen, in den die Geschichtsschreibung (die in Sachen Frauen eher eine Geschichtsradierung ist) sie gestellt hat.

Schaut doch mal bei #FemaleHeritage vorbei! Dort findet ihr viele andere Geschichten von Frauen, die endlich mal erzählt werden müssen. Vom 11.11. bis 9.12.2020 läuft dort eine Blogparade, deren Einträge ihr bei der Monacensia im Hildebrandhaus unter https://blog.muenchner-stadtbibliothek.de/frauen-und-erinnerungskultur-blogparade-femaleheritage/ gesammelt findet. Ich freue mich, mit Ika Freudenberg dabei zu sein!

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Ausschnitt des Briefs vom 3. Juli 1901.

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Korrektur: In einer früheren Fassung hieß es (und im Podcast heißt es immer noch), Ika Freudenberg habe am Berliner Konservatorium ihres Bruders Klavier studiert. Wilhelm ging aber erst 1886 nach Berlin; zu diesem Zeitpunkt wäre Ika fast 30 Jahre alt gewesen.

Quellen und Literatur:

Ika Freudenberg an Anna Pappritz, 3. Juli 1901, NL Pappritz, Landesarchiv Berlin B-Rep 235-13, MF Nr. 3458.
Gertrud Bäumer an Marianne Weber, 4. April 1906, NL Bäumer, Bundesarchiv Koblenz, N1076/28.
Ika Freudenberg und Gertrud Bäumer an Marianne Weber, undatiert, NL Bäumer, Bundesarchiv Koblenz, N1076/28.
Gertrud Bäumer an Marianne Weber, 29.12.1911, NL Bäumer, Bundesarchiv Koblenz,  N1076/28.
Tagebuch Anna Pappritz, NL Pappritz, Landesarchiv Berlin B-Rep 235-13.
Testament Emmy Preußer, 21.6.1897, Bayerisches Staatsarchiv München, AG München I A NR 1899/440. 
Bäumer, Gertrud: Gestalt und Wandel. Frauenbildnisse, 48.-52. Tsd., Berlin 1950 [Erstveröffentlichung 1939].
Reuter, Gabriele: Der Kampf der Frau, in: Der Tag. 20. Januar 1912.
Wolzogen, Ernst von: Das dritte Geschlecht, 1-20 Tsd., Berlin 1899.

Bildnachweise:
Ika Freudenberg: Gertrud Bäumer, Gestalt und Wandel, ggü. S. 432.
Briefauszug: Ika Freudenberg an Anna Pappritz, 3. Juli 1901, NL Pappritz, Landesarchiv Berlin B-Rep 235-13, MF Nr. 3458.

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Zitiervorschlag:
Bianca Walther: „‚Es ist so was Lebendiges drum‘ – Ika Freudenberg (1858-1912) und die Münchner Frauenbewegung“, 13.11.2020, https://biancawalther.de/ika-freudenberg, abgerufen am [Datum].

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