Fanny zu Reventlow und die Frauenbewegung: It’s complicated!
Die „Schwabinger Gräfin“ und Bohème-Ikone Fanny zu Reventlow hatte mit der bürgerlichen Gesellschaft einiges auszutragen. Für eine Vorkämpferin der freien Liebe hat sie sich in einem Text von 1899 aber eine – sagen wir mal – interessante Zielscheibe ausgesucht: die Frauenbewegung. Was war da los? Wir schauen genau hin.
2500 Wörter (geschätzte Lesedauer: 10-15 Minuten).
Im Sommer 1899 erschien eine neue Ausgabe der Zürcher Diskußjonen. Flugblätter aus dem Gesamtgebiet des modernen Lebens. In durch und durch obrigkeitskritischer Manier nahm das Blatt seit 1897 unter konsequenter Missachtung der amtlichen Rechtschreibregeln die kleinen und großen Schwächen der bürgerlichen Gesellschaft aufs Korn. Verfasser war meist Herausgeber Oskar Panizza, aber auch Gastautor:innen kamen zum Zug.
Eine davon war Fanny zu Reventlow. Die 1871 in Husum geborene Schriftstellerin (die übrigens nie „Franziska zu Reventlow“ hieß) lebte mittlerweile in München, wo sie die Freiheiten des Schwabinger Lebens in vollen Zügen genoss. Oder zumindest, soweit es ihre finanziellen Möglichkeiten erlaubten: Von ihrem ersten Mann hatte sie sich 1897 scheiden lassen und lebte seitdem trotz ihrer Arbeit als Autorin und Übersetzerin immer wieder in materiellen Schwierigkeiten.
Prekäre Finanzen hin oder her – Fanny zu Reventlow hatte keine Lust, sich einen „bürgerlichen“ Beruf zu suchen. Verständlich ist das. Zu viel Spaß hatte sie an der Provokation, zu der sie mit einer scharfen Feder überdies ziemlich begabt war.
Für Nummer 22 der Zürcher Diskußjonen hatte Reventlow einmal mehr eine beißende Polemik verfasst. Dafür, dass sich das Blatt als herrschaftskritisch begriff, hatte sie sich diesmal allerdings ein Ziel ausgesucht, das ein wenig wunderlich anmutet: die Frauenbewegung.
Nun hat die bürgerliche Frauenbewegung sicher nicht alles so gemacht, wie wir es heute „richtig“ nennen würden. Auch die Frauenbewegung bestand aus Menschen – und zwar aus vielen und verschiedenen, die teils durchaus unterschiedliche Perspektiven hatten. Zu diskutieren, auch zu kritisieren, gab es immer etwas. Anstatt sich aber mit inhaltlichen Fragen auseinanderzusetzen, tat Reventlow allerdings etwas, was man eigentlich eher von männlichen Antifeministen kennt: Sie zielte aufs Persönliche. Das hatte zwar mit weiblicher Solidarität recht wenig zu tun, aber so manchem männlichen B(r?)ohémien wird es gefallen haben – und jene waren nun mal die primäre Zielgruppe der „Schwabinger Gräfin“. Ob der Text das Bild der Heldin der sexuellen Befreiung zeichnet, als die Reventlow seit ihrem frühen Tod 1918 von der Nachwelt immer wieder gefeiert wird, ist eine andere Frage.
Gehen wir also das Pamphlet einmal in Auszügen durch. Wer es in Gänze nachlesen möchte: Hier findet ihr ein Transkript mit Links zum Faksimile des Originals.
Fanny zu Reventlow: Viragines oder Hetären?
Die Polemik trägt den eingängigen Titel: „Viragines oder Hetären?“, und eigentlich geht sie recht vielversprechend los:
Darüber, was Frauen ziemt, sind die Ansichten wol noch nie so weit auseinander gegangen wie in unseren Tagen, wo die Emanzipazjon und gleichzeitig die Modernität auf erotischem Gebiet immer weitere Kreise zieht und diesen beiden gegenüber hartnäkiger wie je das Filisterjum auf seinen Zopfanschauungen und Zopfgebräuchen behart, wie die bekante hipnotisierte Henne, die sich nicht traut, über den Kreidestrich hinauszugehen.
Alle Zitate aus: Fanny zu Reventlow: Viragines oder Hetären? in: Zürcher Diskußjonen 22 (1899), S. 1-8.
Und all’ diese verschiednen Anschauungen und ihre verschiedne Betätigung rufen allgemeine Streitstimmung hervor und verwirren manches harmlos neutrale Gemüt. Wer hat Recht und wer hat Unrecht? – Und was ist hier das Rechte und was das Unrechte? – so halt es hin und wider, denn wir ordnungsliebenden Europäer halten es nun einmal für notwendig, das bei jeder Gelegenheit festzustellen.
So weit, so versöhnlich. In diesem Stil soll es allerdings nicht weitergehen. Auch Reventlow ist nämlich – Überraschung! – durchaus überzeugt davon, dass es auf ihrer Seite des Kreidestrichs am schönsten ist.
Und so widmet sie sich nun ihrem Thema: Die Frauenbewegung, schreibt sie, habe sicher Großes geleistet, um „die Frauen der arbeitenden Klaßen aus ihrer Misere zu befreien, ihnen beßere Lebensbedingungen, höhere Löhne zu schaffen, sich der Kinder und Wöchnerinnen, besonders der unehelichen, anzunehmen.“ Das sei der „berechtigte Kern“ der Bewegung.
Nun allerdings kommt sie zu dem ganzen Rest: den „extremsten Bewegungsdamen“, nämlich, die behaupten, das Weib könne „Alles, was der Mann kann“ und die neben der Befreiung der Arbeiterin auch „die Befreiung der gebildeten, gutsituirten Frau“ verfolgten, also „den Kampf um die Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter, die durch höhere geistige Schulung der Frau, durch Errichtung von Mädchengymnasjen, Zulaßung zum Studjum und zu den verschieden Berufen erreicht werden soll.“
Damit kann Reventlow gar nichts anfangen. Bürgerliche Frauen, die studieren und eigenes Geld verdienen wollen? Ist das denn noch … natürlich?
Man stelle doch nur einmal einen wirklichen normalen Mann und ein wirkliches normales Weib, wie sie Gott erschaffen hat, nebeneinander und frage sich: Können zwei Wesen, die so verschieden geartet, gebaut, in jeder Beziehung so verschieden konstruirt sind und so verschieden funkzjoniren – können diese zwei Wesen jemals gleichberechtigt, d. h. mit dem gleichen Erfolg zur gleichen Betätigung gebracht werden? Hat es irgend einen Zwek und würde es sich in irgend einer Beziehung lohnen, das zu versuchen, eines von ihnen nach dem andern zu modifiziren, die Geschlechtsunterschiede, die alle andren bedingen, zu verwischen, damit Eines dem Andren ähnlicher wird? –
Wozu hat die Natur denn überhaupt mänliche und weibliche Wesen mit ihrer ewigen Verschiedenheit hervorgebracht? Wozu der anatomische Unterschied, der den Mann von vornherein zum Angreifenden, Ausübenden und das Weib zum Empfangenden, sich Unterwerfenden macht?
Der Mann ist laut Reventlow also dazu geschaffen, zu studieren, zu schöpferisch tätig zu sein und Genie zu werden. Was ihn dazu bestimmt? Nun ja, er hat halt …
Die geschlechtliche Attake ist die Urleistung des Mannes, die nur er auszuüben vermag und von der aus sich sein ganzes Wesen und seine ganze Stellung in der Welt gebildet und entwikelt hat. – Das Weib erwartet, verlangt sie, gibt sich ihr hin. Das ist seine Funkzjon. Und warum soll in dieser äußerlich paßiven Rolle etwas Erniedrigendes liegen? Für diejenigen Frauen, die der Psichjater als natura frigida bezeichnet, mag es ja sein. Gut, so sollen sie es eben bleiben laßen. Aber für jedes, wahrhaft erotisch empfindende Weib liegt gerade ein unendlich feiner Reiz darin, den stärkeren Gegner im Liebeskampf anzureizen, zu versuchen und sich ihm dann in selbstvergeßnem Rausch zu schenken.
Wir halten fest: Die Bestimmung der Frau ist, in freudiger Erwartung der Einverleibung des männlichen Geschlechtsteils entgegenzuharren. Und zwar offenbar in Vollzeit, da Reventlow geistige Bestrebungen mit „wahrhaft erotischem Empfinden“ für zeitlich unvereinbar hält. Das sähe man auch an den Studentinnen, wenn man sie mit den echten studentischen Mannsbildern vergleicht:
Greift doch nur in’s volle Menschenleben hinein, denkt Euch einen fetten, fröhlichen Corpsstudenten, der Tag und Nacht im Wirtshaus sizt, trinkt, liebt, paukt und es doch schließlich zum Arzt, Anwalt oder sonst irgend einem Beruf bringt, und daneben eine Studentin, die Studentin trinkt nicht, liebt nicht, sie lebt nur in ihrer Arbeit und für ihre Arbeit, als Weib zählt sie nicht mehr mit. Der liebenswürdige Tipus der studierenden Geliebten, den Wolzogen in seiner Claire de Vries im „Dritten Geschlecht“ schildert, begegnet uns im Leben fast nie. Wir lernen in der Praxis immer nur überarbeitete, nervöse Berufsfrauen kennen, die der Welt und ihrer Lust abhold sind, weil sie eben beides nicht miteinander vereinigen können. Es soll das nicht etwa eine Verhöhnung der arbeitenden Frauen, d. h. derjenigen, die wirklich arbeiten müßen, sein. Die Energie und die Selbstverleugnung, die manche von ihnen an den Tag legen, mag ja höchst anerkennenswert sein, aber ein erfreuliches Bild ist es nicht.
Wer in diesem Blog schon eine Weile mitgelesen oder gelegentlich in den Podcast hereingehört hat, wundert sich über diese Passage vielleicht genauso, wie ich es getan habe. Sicher – die Studentinnen hatten die Hochschulreife auf Umwegen erwerben müssen und deshalb oft in den ersten Semestern noch Stoff nachzuholen. Wissend, an welch hohen Maßstäben sie gemessen wurden, arbeiteten sie meist hart.
Aber „der Welt und ihrer Lust abhold“? Über dieses Urteil würden sich Elisabeth Winterhalter oder Anita Augspurg wahrscheinlich eher amüsieren. Beide lernten während der Studienjahre ihre große Liebe kennen – in Winterhalters Fall die Malerin Ottilie Roederstein, in Augspurgs die Hamburger Kaufmannstochter Lida Gustava Heymann. Auch fanden viele studierte Frauen ein bis zwei Eheleben durchaus vereinbar mit ihrer Berufstätigkeit: Die Ärztin Hope Adams-Lehmann (geschiedene Walther-Adams) und die Zahnärztin Henriette Tiburtius (geschiedene Hirschfeld, geborene Pagelsen) sind nur zwei Beispiele. Die Soziologin Marianne Weber war sogar schon vor der Aufnahme ihres Studiums mit einem gewissen Max verheiratet. Rosa Luxemburg und Helene Stöcker lebten ehelos mit Männern zusammen. Und auch die allein Lebenden waren keine Trauerklöße: Die Medizinstudentin Anna Kuhnow war ebenso in Freundinnenkreise eingebunden wie ihre Vorgängerinnen Emilie Lehmus und Franziska Tiburtius.
Diese Realität beirrt Reventlow aber offenbar wenig. Überhaupt, was soll das mit den weiblichen Ärztinnen?
Besonders weibliche Aerzte „weil das Schamgefühl mancher Frauen sie hindert, sich einem mänlichen Arzt anzuvertrauen.“ Warum sucht man nicht lieber den Frauen dieses falsche Schamgefühl abzugewöhnen, hinter dem doch nur Dummheit oder Lüsternheit stekt. Eine normal empfindende Frau schämt sich gewiß weit eher vor einem weiblichen Arzt.
Nun ja. Die Frankfurter Frauenrechtlerin und Soziologin Henriette Fürth (eine Gebildete mit acht Kindern) hatte mal einen männlichen Gynäkologen – bis jener mal wg. Fortbildung bzw. kein Bock bei einer Geburt als Vertretung ein Frl. Dr. Winterhalter schickte. Was soll man sagen? Eine gemeinsame Geburt, und Elisabeth Winterhalter hatte eine Stammpatientin mehr.
Ceci n’est pas une compositrice!
Auch in anderen Gebieten sieht Reventlow keine Leistungen von Frauen, die ein irgendwie geartetes gleichberechtigtes öffentliches Auftreten rechtfertigen. Komponistinnen? Dramatikerinnen? Gibt es nicht! Malerinnen? Mittelmaß – mit Ausnahme der Baschkirtseff! Mathematikerinnen? Gut, Sofia Kowalewska, aber die wäre doch viel lieber Ehefrau gewesen! Den einzigen Beruf, den sie gelten lässt, ist den der Schauspielerin – weil frau da lediglich körperzeigend und nachahmend tätig ist:
[D]as Materjal, mit dem sie hier zu arbeiten hat, ist sie selbst, ihr eigner Körper, ihre Stimme, ihre Bewegungen, und der Mann ist hier nicht der Konkurent, mit dem sie ihre Kräfte meßen soll, sondern wie im Leben der Partner, der Mitspielende. Und ferner, was von großer Bedeutung ist, die Schauspielerei ist keine eigentlich produktive Kunst, es handelt sich nur um die Auffaßung, das Sich-hineinleben, Nachempfinden.
Am meisten verstört Reventlow jedoch eine Gattung Frau: Frauenrechtlerinnen – besonders, wenn sie Frauen liebten. Diese „Extremsten, in geteiltem Loden-Rok und gestärkter weißer Weste“ redeten mit einer Stimme „wie eine Baß-Klarinette“ über „das Woib“ (wobei yours truly jetzt aber auch nicht wirklich weiß, was daran unsexy sein soll). Die Frauenbewegung sei „die ausgesprochne Feindin aller erotischen Kultur, weil sie die Weiber vermänlichen will. Sie will unsern blutarmen, höheren Töchtern durch Gimnasjum und Studjum das bischen Geschlecht noch völlig abgewöhnen.“
Etwas Kontext gefällig? 1899 war das Jahr, in dem mit Marie Stritt (geborene Bacon) eine ehemalige Schauspielerin zur Vorsitzenden des Bunds deutscher Frauenvereine gewählt wurde, die Fotografin und Salonnière Sophia Goudstikker mit ihrer Lebensgefährtin Ika Freudenberg eine riesige Ausstellung weiblicher Bestrebungen, Unternehmungen und anderer Initiativen organisierte und die Sozialreformerin Alice Salomon nach dem frühen Tod ihrer Vorgängerin Jeannette Schwerin die Leitung der Berliner Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit übernahm und damit die Grundsteine für die moderne Sozialpädagogik legte. Minna Cauer, Anita Augspurg und einige andere gründeten den äußerst lebendigen Verband fortschrittlicher Frauenvereine, Anna Pappritz verliebte sich in Margarete Friedenthal, und Helene Lange begann ihre 30-jährige Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit der 25 Jahre jüngeren Gertrud Bäumer. Dass es der Frauenbewegung 1899 an Erotik, Kultur und Lebensblut gemangelt hätte, kann man tatsächlich nur schwer behaupten.
Gut, dass einige Frauenrechtlerinnen eine etwas andere Auffassung von „erotischer Kultur“ hatten als sie, war Reventlow nicht verborgen geblieben. Aber auch da war sie mit der praktischen Ausgestaltung dieser Kultur nicht ganz zufrieden: (CN: Lesbenfeindlichkeit, Objektifizierung)
Mein Gott, es fält uns ja nicht ein, die lesbische Liebe principjell zu „verdammen.“ Der Verdammungsstandpunkt ist für uns moderne Heiden überhaupt ein überwundner. Unter der anmutigen Form, wie sie uns Pierre Louys in seiner „Aphrodite“ schildert, sind wir gern bereit, sie als berechtigt anzuerkennen, als Bereicherung der Welt um ein grazjöses Laster. Aber an den Viragines unsrer Tage mit Herrenwesten und Lodenröken irgend ein ästetisches Wolgefallen zu finden – das ist zu viel verlangt.
Ob die „Viragines“ sich darüber grämten, dass Reventlow ihnen nicht bei ihren intimen Begegnungen hätte zusehen mögen, ist nicht überliefert. Ob sie sich je ähnliche Gedanken über Reventlows Liebesleben machten, ebenfalls nicht.
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Zum Schluss hebt Fanny zu Reventlow zum Fazit an. Vermutlich war es als kecker Schlussakkord eines Artikels gemeint, den sie für eine Art provokanten Tabubruch im Sinne des Kampfs gegen – ja, wogegen eigentlich? – verstand. Gelang das? Ich überlasse die Beurteilung euch. (CN: Inter- und Transfeindlichkeit.)
Darwin erzählt uns, daß die englischen Schafzüchter sexuelle Zwischenformen aus ihrer Herde ausmerzen, weil sie weder schöne Wolle noch gute Hammelrüken liefern. Die Natur hat unter den Menschen bereits dasselbe getan. Die neusten Lehrbücher der patologischen Anatomie konstatiren, daß die Hermafroditen am Aussterben sind. Die Viragines, die bei uns die Männer abschaffen wollen, sind also wol zum gößeren Teil nur hermafroditische Geister, mit denen der gesund-erotische Geist des neuen Heidentums, dessen Sieg wir vom nächsten Jahrhundert erhoffen, bald aufräumen wird.
Dem ist wenig hinzuzufügen, außer vielleicht herzliche Grüße aus dem 21. Jahrhundert.
Was machen wir damit?
Man könnte nun einwenden, dass Reventlow ein „Kind ihrer Zeit“ war und man nichtheterosexuelle, nicht-cisgeschlechtliche Menschen damals „nun mal so sah“. Aber: Das war in progressiven Kreisen keineswegs gegeben. In der Frauenbewegung arbeiteten verheiratete, allein lebende und frauenliebende Frauen Seite an Seite. Insbesondere in der Münchner Frauenbewegung gelang es Ika Freudenberg und Sophia Goudstikker immer wieder, auch Frauen und Männer für frauenpolitische Zwecke zu gewinnen, die mit Feminismus eigentlich gar nichts am Hut hatten.
Sicher, auch der Satiriker Ernst von Wolzogen bescheinigte den Frauen der Frauenbewegung in seiner (Reventlow gewidmeten) Satire Das dritte Geschlecht einen relativen Mangel an dem, was er für Liebreiz hielt. Gleichzeitig lässt sein Text bei aller Bissigkeit eine gewisse Sympathie für die Frauen durchschimmern. Entgegen dem, was der Titel vermuten lässt, hält er sich zudem relativ bedeckt zu der Tatsache, dass viele von ihnen Frauen liebten. Gewusst wird er’s haben – aber vielleicht hielt er es nicht für seine Aufgabe, die Frauen zu exponieren und ihnen damit möglicherweise Handlungsräume zu nehmen. Wir befinden uns um 1900 immerhin in einer Zeit, in der innige Freundschaft als erstrebenswert, Homosexualität dagegen sowohl als Krankheit als auch als Perversion galt.
Wie die Frauen, die es betraf, Reventlows Karikatur aufnahmen, ist nicht überliefert. Mag sein, dass diejenigen, die Reventlow persönlich kannten, das „Flugblatt“ nicht ganz so ernst nahmen. Es scheint, als hätte sich die 28-jährige Gräfin mit ihrem Lebensentwurf in einer noch unterdrückteren Position empfunden als die Wissenschaftlerinnen, Malerinnen, Komponistinnen, Ärztinnen und Frauenrechtlerinnen, deren wenig schmeichelhaftes Porträt sie hier zeichnete. Vielleicht war es ein Ausdruck einer gewissen Geringschätzung der Erfahrung von Menschen aus anderen Lebenswelten. Das konnte in den (sagen wir mal so: nicht immer ihre Privilegien umfassend reflektierenden) Literat:innenszene um 1900 durchaus vorkommen. Schließlich kommt hinzu, dass Reventlow ihr Selbstbild und nicht zuletzt ihren Lebensunterhalt an ihre Selbstinszenierung als männerliebende Frau gehängt hatte. Sie war die „Hetäre“ ihres Titels, die vor der Negativfolie des „Mannweibs“ umso strahlender hervortreten sollte.
Und jetzt? Dürfen diejenigen, die ihre Bücher gern lesen, keinen Spaß mehr an Ellen Olestjerne, Herrn Dames Aufzeichnungen oder dem Logierhaus zur Schwankenden Weltkugel haben? Das zu fordern wäre wohlfeil von einer, für die es mangels Interesse sowieso kein Verlust wäre. Gleichzeitig kann es nicht schaden, die opportunistische Seite der „Schwabinger Gräfin“ beim Lesen stets mitzudenken. Sie war eben nicht die Heldin der sexuellen Befreiung, als die sie gern gezeichnet wird. Sie war ein Mensch, der sich einen möglichst bequemen Weg zu einem materiell gangbaren und erotisch einigermaßen erfüllten (Über-)Leben suchte. Auf dem Weg, den sie gewählt hatte, war weibliche Solidarität nicht nur unnötig: Sie störte.
Fanny zu Reventlow hatte kein Interesse daran, sich mit Kritikerinnen des Patriarchats gemein zu machen. Dafür lebte sie dann doch zu gut von ihm.
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Wer neugierig auf eine kenntnisreiche Einordnung von Fanny zu Reventlow in die Liebesdiskurse der Schwabinger Bohème geworden ist: In Gabriele Thießens Studie „Da verstehe ich die Liebe doch anders und besser.“ Liebeskonzepte der Münchner Bohème um 1900 (Nordhausen 2015) findet ihr sie.
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Dieser Text ist Teil der Blogparade #FemaleHeritage der Monacensia im Hildebrandhaus. Neugierig auf mehr? Hier findet ihr die Links zu allen anderen Blogartikeln über Frauen, deren Geschichten endlich mal erzählt werden sollten.
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Verwendete Literatur:
Fanny zu Reventlow: Viragines oder Hetären? in: Zürcher Diskußjonen 22 (1899), S. 1-8.
Ernst von Wolzogen: Das dritte Geschlecht, München 1899.
Bildquellen:
Fanny zu Reventlow: Wikimedia Commons.
Titelblatt Zürcher Diskußjonen: Wikisource.
Zitiervorschlag:
Bianca Walther: Fanny zu Reventlow und die Frauenbewegung: It’s complicated! 18.11.2020, https://biancawalther.de/fanny-reventlow (abgerufen am [Datum]).
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