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„I love, and only love the fairer sex.“ – ‚Gentleman Jack‘ bringt Anne Lister in die Prime Time

„I love, and only love the fairer sex.“ – ‚Gentleman Jack‘ bringt Anne Lister in die Prime Time

„I love, and only love the fairer sex.“ – Gentleman Jack bringt Anne Lister in die Prime Time

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Die BBC-Produktion Gentleman Jack zelebriert mit Lust und Humor das Leben einer englischen Landadligen, die nach Kohle schürfte, Europa bereiste und Frauen liebte. Eine spoilerfreie Nachbesprechung.

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Sophie Rundle und Suranne Jones in ‚Gentleman Jack‘ (Foto: Jay Brooks, BBC).

Yours truly gehört ja zu denen, bei denen TV-Besprechungen meist mit den Worten „Ich guck eigentlich selten Fernsehen …“ beginnen. Das stimmt auch (obgleich mir klar ist, dass das hier gerade der zweite Eintrag in Folge ist, der durch eine Fernsehserie motiviert ist). Warum Filme oder Serien schauen, die durch den Filter irgendwelcher (meist männlicher) Regisseure gegangen sind, wenn das Leben selbst die viel dramatischeren, romantischeren, komplexeren, abgefahreneren und unerwarteteren Geschichten schreibt? In denen Frauen auch noch über sehr viel mehr Themen miteinander reden als sie es für gewöhnlich auf dem Bildschirm tun dürfen?

Besonders einfallslos scheinen Film und Fernsehen bei lesbischen Themen zu sein. Die deutsche TV-Lesbe ist ja gern entweder Single oder tot oder beides. Ist sie Nebenfigur, darf sie gelegentlich auch mal eine Hauptfigur küssen (wir sind ja im 21. Jahrhundert) – allerdings um den Preis radikal sinkender Überlebenschancen. Nach maximal zwei Folgen ist Exitus, traurig aber leider unvermeidbar; der Plot will es so. Charité und Babylon Berlin, ich grüße euch.

Noch schlimmer wird’s bei lesbisch-historischen Biopics. Oder sollte ich sagen: bei dem lesbisch-historischen Biopic. Sobald die Beteiligten sich nämlich aufgrund eigenen Ablebens nicht mehr wehren können, scheinen all ihre Geschichten auf wundersame Weise in ein einziges Plot zusammenzumorphen. Das geht in etwa so: Unternehmungslustige Frau auf Frauensuche verliebt sich in schöne aber wankelmütige Bisexuelle, die ihr böse weh tut, bekommt aber, wenn sie Glück hat, eine etwas farblose aber treue Mitlesbe zum Trost. Ordentliche Geschlechterordnung wiederhergestellt, lesbische Happiness rücksichtsvoll in den Offscreen-Bereich ausgelagert. Das schwedische Fernsehen hat die mehrfachliebende, schmerzgrenzentolerante Selma Lagerlöf einmal besonders gewaltsam in diese Keksform gepresst; auch die unternehmungslustige und ganz und gar geschlechterunordentliche Anne Lister hat genau den Plot mindestens einmal verpasst bekommen.

Entsprechend skeptisch war ich also, als mein Babylon-Berlin-bedingtes Bezahlfernseh-Abo mir eine Werbung für die BBC-HBO-Koproduktion Gentleman Jack auf den Bildschirm spülte. Aber: Wo ich (a) nun schon einmal bezahlt hatte und (b) Miss Anne Lister of Shibden Hall einen mit Zylinder und Stehkragen so anschaut? Also gut, sagte ich mir, im Sinne der Weiterbildung und in Würdigung spätgeorgianischer Execudyke-Outfits zur Prime Time: Riskieren wir’s.

Und was soll ich sagen? Sally Wainwright und ihre Hauptdarstellerinnen Suranne Jones und Sophie Rundle haben so gut wie keine Wünsche offen gelassen (außer dass ich das mit den Jahreszeiten gern nochmal erklärt bekommen hätte – da ist „in einem halben Jahr“ April, während draußen die Bäume in sattem Grün stehen, und es vergehen zwei Winter ohne einen einzigen, nun ja, Winter). Wir bekommen Humor, Frauenkompetenz, ein England mit durchgehend Sonnenschein sowie schmissige Hintergrundmusik für Miss Listers wieder und wieder genüsslich von hinten gefilmten Siebenmeilenstiefelgang. Dazu Asha Greyjoy aus West-Westeros als herrlich prim-und-propere und diesmal kein bisschen drachenköniginnenorientierte Schwester.

Gut, es ist eine Serie. Für ein quellengetreueres Porträt der historischen Anne Lister bietet sich ganz sicher eher Angela Steideles Biografie an (die sich gerade auf die Spitze des mittelgroßen Stapels meiner zu lesenden Bücher gesetzt hat). So viel lesbische Vielschichtigkeit wie hier allerdings war im Prime-Time-Fernsehen noch nie. Diese Anne ist keine Identifikationsfigur: Stockkonservativ nicht nur in der Auswahl der Stehkragen, auch in romantischen Dingen nicht immer aus edlen Motiven handelnd, ist sie Gentry durch und durch. Zuverlässig geht anders, und auch wenn sie ihre Momente hat: Eine soziale Ader gegenüber den Menschen, die für sie arbeiten, sucht das bürgerliche Publikum von heute vergeblich.

Gerade das macht an dieser Anne Lister aber so viel Spaß. Die Macherinnen nehmen sich die Freiheit, ihre Hauptfigur nicht nur dynamisch durch die Landschaft und die Betten von je nach Zählweise fünf bis sechs Frauen zu schicke (die Tanzpartnerin zählen wir mit, oder?), sondern sie immer wieder auch ein wenig hops zu nehmen. Da ist es dann eben die Schwester, die sich für die Reform Bill ausspricht, während Anne sich darüber echauffiert, dass das neue Zensussystem nun quasi jeden Bauern über die politischen Geschicke des Landes abstimmen lässt (und sie als deren Chefin darf es nicht – womit sie ja nun auch wieder einen Punkt trifft). Und da knickst sie in Dänemark vor der falschen Adligen und stiefelt im tief dékolletierten Abendkleid genauso energisch durch den Ballsaal, wie sie zu Hause im Gehrock mit knappem Gruß („Argus!“) am Wachhund vorbeimarschiert.

A propos Gehrock: Wir bekommen was fürs Auge. Über das Wetter haben wir ja schon gesprochen. Allein farblich macht die Serie damit bereits deutlich mehr her als der Film von 2011 (siehe oben). Dazu kommen die Kostüme von Tom Pye – die Textilien sind nachgerade die dritte Hauptfigur neben Anne und Ann (ja, die Liebenden haben den gleichen Vornamen, was aber kaum verwirrt, da sie für die meisten nur „Miss Lister“ und „Miss Walker“ sind). Ernsthaft: Kleider, Busentücher, Gehröcke, Stehkragen, Schuhe und Kopfbedeckungen liefern bis aufs Knopfloch den Effekt, auf den sie sehr offensichtlich, aber darum nicht minder wirkungsvoll getrimmt sind (hat eigentlich jemand mitgezählt, wie viele rosa Kleider Ann Walker besitzt?). Und dann die Onscreen-Erotik, vom ersten Kuss im Knusperhäuschen bis zum Sex, über den wir hier natürlich auch sprechen wollen.

Den bekommen wir nämlich dankenswerterweise mehr als einmal und dabei stets – o Freude! – ohne Sensationalismus, Voyeurismus und den gymnastischen First-Timer-Spontanoralsex, über den wir bei Blau ist eine warme Farbe schon so herzlich gelacht haben. Stattdessen nimmt Wainwright sich Zeit für ein paar schöne, intime Momente und gönnt uns auch einen augenzwinkernden Einblick in die akribische erotisch-handwerkliche Buchführung der echten Anne Lister. Die nämlich hat ihr (leider recht kurzes) Leben in 27 Tagebüchern mit zusammen 4 Millionen Wörtern festgehalten – einschließlich der Anzahl, Entstehungsgeschichte und Dauer vermittelter wie erlebter Orgasmen der jeweils letzten 24 Stunden.

Anne Lister, genannt 'Gentleman Jack'
Anne Lister, ca. 1830 (Gemälde von Joshua Horner)

Die Synchronisation hat, wie leider so oft, ihre Schwächen. Ob es daran liegt, dass am Produkt gespart wurde oder die Übersetzer:innen zu wenig Zeit oder zu wenig Zugang zum Material bekamen, kann ich nicht sagen. Dennoch ist es immer wieder bedauerlich, dass gerade dieser Posten aufgrund vemeidbarer Fehler zum Wermutstropfen werden muss. Eine Synchronisation muss nicht schlecht sein, aber sie braucht Zeit und Kooperationsbereitschaft seitens des Auftraggebers. Und sie braucht erfahrene Übersetzer:innen. Sorry, aber „sorry“ heißt eben nicht immer „Entschuldigung“, sondern sehr oft „Wie bitte?“ Ein knappes „I’m going out“ ist mit „Ich muss weg“ oft besser wiedergegeben als mit „Ich gehe nach draußen.“ Und bei aller Liebe: Wenn eine Lady um 1830 ihren man zum Übernachtungsdate bei der Geliebten mitbringt, dann ist damit ganz bestimmt nicht ihr Ehemann gemeint. Das kann man wissen, zumal, wenn man dafür bezahlt wird, es zu wissen. (Wenn man denn dafür bezahlt wird, es zu wissen.)

Egal. Das Schöne am Streamen ist: Es gibt die Möglichkeit, aufs Original umzuschalten. Bei den Verwicklungen um den Listerschen Kohleschacht wird es dann bisweilen etwas kompliziert, aber wenn Suranne Jones zum Beispiel in Folge 5 in Zylinder und dandystockwirbelnd einen Pfaffen nach allen Regeln der Kunst filetiert (ich verrate noch nicht, warum), dann darf sich das wirklich niemand – egal, wie englischkundig oder nicht – im Original entgehen lassen.

Also: Wer schon immer auf eine frühlesbische Kostümromanze mit Handlung, mehrdimensionalen Figuren, Witz und jeder Menge Screentime für Frauenliebe und den Kampf darum gewartet hat: anschauen. Und wer noch nicht wusste, dass sie:r darauf gewartet hat: auch.

Hab ich noch was vergessen?

Ach ja. Die Musik. Aber hört einfach selbst. You know you want to.

PS: Es gibt die Serie auch auf DVD. Man muss also kein Bezahlfernsehensabonnement abschließen.