Frauengeschichte in Blog, Podcast und Social MEdia
Texwindis von Andernach: Die Nonne, die Hildegard von Bingen herausforderte

Texwindis von Andernach: Die Nonne, die Hildegard von Bingen herausforderte

Texwindis von Andernach: Die Nonne die Hildegard von Bingen herausforderte

Texwindis von Andernach, oder: Wie eine mittelalterliche Beamtentochter aus der Eifel zur Klostervorsteherin wurde und sich mit der berühmten Hildegard von Bingen anlegte. Die Frauen von damals heute mit einem kleinen Abstecher ins 12. Jahrhundert.

Texwindisstraße

Im Andernacher Süden gibt es eine unscheinbare Straße, die an einer Seite an den Schillerring, an der anderen auf die Stadionstraße stößt: die Texwindisstraße. Für den Durchgangsverkehr ist sie uninteressant – außer vielleicht als Abkürzung von der Südstadt auf dem Weg ins Freibad. So wurde Texwindis auch dieser Bloggerin ein Begriff. Eine Nonne sei sie gewesen und habe im Mittelalter einem Kloster vorgestanden, hieß es dazu in der Schule. Nun gut, das war lang her. Abgehakt.

An die Frau, die der Straße ihren Namen gab, erinnert heute nichts mehr. Auch an dem Ort nur wenige hundert Meter entfernt, wo sie wohl fast ihr gesamtes Erwachsenenleben verbrachte, finden wir keine Spuren. Immerhin schien sie den Stadtvätern und -müttern so wichtig, dass sie ihr – als über lange Jahre einziger Frau – ein Sträßchen widmeten.

Machen wir uns also auf eine kleine Spurensuche. Wer war Texwindis von Andernach?

Um ganz vorne anzufangen: Wir wissen noch nicht einmal genau, wie sie hieß. In der Überlieferung finden sich die verschiedensten Schreibweisen: von Tenxwind über Teghwind und Tenxwich bis zu Texwindis – die Form, in der sie auf dem Straßenschild landete und bei der wir auch hier bleiben wollen. Eigentlich kam sie gar nicht aus Andernach. Vermutlich um 1090-1100 geboren, war sie die Tochter eines Ministerialen namens Ruker, der im Dienst des Pfalzgrafen stand, und dessen Frau Benigna von Daun, ebenfalls aus einer Ministerialenfamilie stammend. Ministeriale waren Guts- oder Klosterverwalter. Sie waren mit Beamten vergleichbar, gehörten aber einem unfreien Stand an. Gleichwohl war es eine aufstiegsorientierte Schicht, aus der sich ab dem 13. Jahrhundert der niedere Adel entwickeln sollte.

Jugend und Ausbildung im Kloster

Über Texwindis‘ erste Jahre ist nichts bekannt. Die Überlieferung setzt um das Jahr 1100 ein, als Vater Ruker starb und Benigna mit den beiden Kindern auf sich allein gestellt war. Vermutlich hatte sie ein Witwengut im Kondelwald erhalten. Thermunt hieß es. Dorthin zog sie mit Tochter Texwindis und wohl auch Sohn Richard, um ihr Leben – wie es heißt – in Einkehr und Buße zu beschließen.

Untätig war Benigna in ihrer stillen Einkehr jedoch keineswegs. Sie war nach Thermunt gekommen, um ein so genanntes Kanonikerstift zu gründen. Diese Stifte waren um jene Zeit eine verstärkt aufkommende Erscheinung. Sie waren Teil einer Reformbewegung, die sich gegen einen als zu ausschweifend empfundenen mönchischen Lebensstil abgrenzte. Die Stiftsherren oder Regularkanoniker waren selbst keine Mönche, lebten aber in mönchsähnlicher Gemeinschaft und richteten sich nach einer Ordensregel. Anders als in den meisten Klöstern jener Zeit galt in Thermunt die Augustinerregel, die strenge Fasten-, Arbeits- und Schweigegebote enthielt. Ferner galt das Gebot der Armut und Brüderlichkeit. Die Weihe des Konvents erfolgte um 1102 durch den Erzbischof von Trier; spätestens ab 1107 war er unter dem Namen Springiersbach bekannt.

Es gilt als wahrscheinlich, dass der Springiersbacher Konvent schon früh eine Frauengruppe hatte, in der wohl auch Texwindis aufwuchs. In jedem Fall erhielt die heranwachsende Frau eine für die damalige Zeit äußerst umfassende Ausbildung: Als spätestens 1118 (vermutlich aber schon einige Jahre früher) ihr Bruder Richard die Leitung des Konvents übernahm, arbeitete sie bereits eng mit ihm zusammen. So wird sie in der Gründungsgeschichte der Springiersbacher als Richards „leibliche Schwester und Schwester im Geiste“ bezeichnet, und ihr werden eingehende Kenntnisse der kanonikalen Regeln zugeschrieben.

Klostergründung in Andernach
Ansicht von Andernach mit Kloster St. Thomas

Wohl 1128 verlegten Texwindis und Richard das Springiersbacher Frauenstift vor die Tore der Stadt Andernach. Der Trierer Erzbischof, unter dessen Herrschaft sich auch der Konvent Springiersbach befand, hatte den Geschwistern eine dort befindliche Ruine eines ehemaligen Kanonissenstifts überlassen, und so zog Texwindis mit ihren Glaubensschwestern an den Rhein. Am 1. August 1129 wurde der Konvent feierlich eingeweiht; Texwindis wurde die erste Meisterin (magistra). Der Titel der Äbtissin wurde erst ab dem 18. Jahrhundert verliehen.

Eine mittelalterliche Klostervorsteherin also. Damals in der Schule stellte ich mir darunter eine Frau im Habit vor, die sehr viel betet und ansonsten darauf achtet, dass die anderen Nonnen spuren. Aber Texwindis tat noch sehr viel mehr als das. Als Teil einer klösterlichen Reformbewegung beteiligte sie sich nämlich auch an den reformpolitischen Debatten ihrer Zeit – und das offenbar durchaus engagiert. Irgendwann zwischen 1147 und 1153 (wahrscheinlich zwischen 1148 und 1150) suchte sie dabei auch die Diskussion mit einer Zeitgenossin, die wir heute noch kennen: Hildegard von Bingen (1098-1179).

Texwindis und Hildegard

Hildegard von Bingen war zu jener Zeit bereits eine bekannte Größe. Ab 1136 war sie magistra des Klosters Disibodenberg. Dass sie dort schon früh die Speise- und Gebetsbestimmungen lockerte, hatte bald die eine oder andere Kontroverse ausgelöst. 1141 begann sie, die Visionen niederzuschreiben, für die sie später berühmt wurde, und sechs Jahre später erteilte Papst Eugen III. ihr die Erlaubnis, die Texte zu veröffentlichen.

Um 1150 – also in dem Zeitraum, in den der Briefwechsel mit Texwindis fällt – hatte Hildegard schließlich ein eigenes Kloster gegründet. Nach 14 Jahren als Vorsteherin von Disibodenberg war sie mit 18 Nonnen auf den Rupertsberg bei Bingen gezogen. Von dort drangen ins drei Tagesmärsche entfernte Andernach bald Erzählungen, die der reformorientierten Meisterin des dortigen Frauenkonvents nur missfallen konnte: Es hieß, die Nonnen feierten ihre Festtagsgottesdienste mit offenen Haaren, geschmückt mit seidenen Schleiern, Ringen und reich verzierten goldenen Kronen. Und noch eine Praxis stieß bei Texwindis auf Kritik: Hildegard nahm nämlich nur adlige Frauen in ihren Konvent auf. Arme und Unfreie mussten draußen bleiben.

Ein Brief – und eine Antwort

Es überrascht wohl kaum, dass Texwindis nicht gefiel, was sie da hörte. Immerhin stand das, was Hildegard praktizierte, so ziemlich für alles, was ihre Reformbewegung kritisierte. Also ergriff sie die Feder und wandte sich an die berühmte Kollegin. Umfangreiche Höflichkeits- und Bescheidenheitsbezeugungen am Anfang, die typisch für mittelalterliche Gelehrtenbriefe waren, maskierten dabei kaum ihre Missbilligung dessen, was auf dem Rupertsberg da vor sich ging: Hatte Paulus in seinem Timotheusbrief nicht ausdrücklich verboten, dass Frauen sich prunkvoll kleideten und schmückten? Und wie vertrug sich die Verweigerung der Aufnahme Armer mit Christi Lehre und der Praxis der Urkirche, in der auch einfache Fischer willkommen waren?

Die Antwort fiel brüsk aus. Ganz ohne lange Umschweife (und damit für einen mittelalterlichen Brief durchaus unwirsch) erklärte Hildegard, das Schamhaftigkeitsgebot des Apostels Paulus gelte nur für Ehefrauen. Selbst jene dürften sich schmücken und in maßvollem Prunk kleiden, wenn der Ehemann es so wünschte. Ganz ausgenommen seien dagegen die Jungfrauen, denn sie seien „im Heiligen Geist und in der Morgenröte der Jungfräulichkeit der Unschuld vermählt“.

Noch deutlicher liest sich die Replik auf den zweiten Kritikpunkt. Selbstverständlich nehme sie nur Adlige auf, denn „Gott unternimmt auch bei jeder Person eine genaue Unterscheidung, so daß der geringere Stand nicht über den oberen steigt. […] Und welcher Mensch sperrt seine ganze Herde in einen Stall, also Rinder, Esel, Schafe, Böcke, so daß sie sich nicht unterscheiden? Deshalb herrsche Unterscheidung auch darin, daß nicht unterschiedliche Leute in einer Herde zusammengeführt sich in Überheblichkeit und in der Schande der Unterschiedlichkeit zerstreuen […].“

Dieser für uns heute befremdliche Vergleich zwischen Menschen und Tierwelt war im Mittelalter nicht außergewöhnlich. Auch Klöster unterschieden zwischen Menschen höheren und niederen Standes – und zwar drastisch. Die Ordnung der Stände wurde als göttliche Ordnung verstanden; Hildegard bemüht zur Erläuterung der Verschiedenheit von Adligen und Menschen niederen Standes gar den Vergleich von Engeln und Menschen. Gerade diese unüberwindliche Trennung war jedoch einer der Punkte, die die Springiersbacher Reformer:innen kritisierten – zumal es keine Bibelstelle gab, die sie rechtfertigen konnte.

Nach Hildegards Antwort sind keine weiteren Kontakte zwischen den beiden Frauen belegt. Wahrscheinlich war es Texwindis von Andernach aber auch gar nicht darum gegangen, Hildegard zu überzeugen. Der Illusion, das zu können, dürfte sie sich kaum hingegeben haben. Immerhin war ihr gelungen, ihre Kritik so zu äußern, dass sie noch heute erhalten ist – wenngleich es bis ins letzte Jahrhundert dauerte, Texwindis‘ ursprünglichen Wortlaut wieder zum Vorschein zu bringen. Im Lauf der Überlieferung war an dem Brief nämlich so herumgekürzt worden, dass er sich wie ein Loblied auf Hildegard las. Vielleicht kein Wunder, war er doch im Zuge der frühen Hildegard-Geschichtsschreibung überliefert worden.

Texwindis – eine erfolgreiche, meinungsstarke Klostervorsteherin, über die wir kaum etwas wissen

Über Texwindis‘ weiteren Lebensverlauf ist so gut wie nichts bekannt. Es wird vermutet, dass ihr Todestag auf einen 22. April fiel und dass sie 1152 noch lebte. Ein genaues Todesdatum ist ebenso wenig überliefert wie ein Geburtsdatum oder ein Bildnis.

Was kann man also über die meinungsstarke Klostervorsteherin aus Andernach sagen? Klar ist, dass sie einen Grund hatte, der Binger Kollegin gegenüber mit Selbstvertrauen aufzutreten: Ihr Kloster war unter ihrer Leitung stark angewachsen und erlebte gerade eine Blütezeit. Schon 1138 – zehn Jahre nach der Gründung – hatte der Trierer Erzbischof die Mahnung wiederholt, dass die Zahl der aufgenommen Frauen auf 100 zu begrenzen sei. Zahlreiche Zustiftungen sicherten den Lebensunterhalt der Frauen, darunter Güter in Trimbs und Thür sowie verschiedene Besitzungen, die Familien von eintretenden Töchtern dem Kloster überließen.

Irgendwann nach Texwindis‘ Tod änderte sich die Ausrichtung des Klosters. Im 15. Jahrhundert wurde es zu Ehren des Hl. Thomas Becket von Canterbury in „Abtei St. Thomas“ umbenannt – oder, in voller Länge: „Unsere Liebe Frau vor den Mauern zum heiligen Thomas“.

Und heute?
Alte St. Michaels-Kapelle am Standort des ehemaligen Klosters St. Thomas, Andernach
Kapelle auf dem Gelände der heutigen St. Thomas Realschule plus

Dort, wo das Kloster einst stand, befindet sich heute die St. Thomas Realschule plus. Nur eine jüngst restaurierte Kapelle aus dem 13. Jahrhundert ist noch erhalten. Alte Gebäude wurden im Lauf der Jahre abgerissen und durch Neubauten ersetzt. 1802 waren alle Andernacher Klöster im Zuge der napoleonischen Säkularisierung aufgelöst worden. In St. Thomas wurde 1815 eine (wie es damals hieß) „Irrenpflegeanstalt“ eingerichtet, die im Zuge des Ausbaus der Stadt an die Aktienstraße zog, wo sich heute die Rhein-Mosel-Fachklinik befindet. Der alte Wehrturm der Klostermauer steht noch heute – als Alter Wasserturm.

Das ehemalige Klostergebäude wurde aufgeteilt: Ab 1920 befand sich im Haupthaus die katholische Volksschule St. Thomas, aus der die spätere Hauptschule und heutige Realschule plus hervorging. Im ehemaligen Äbtissinnenhaus entstanden Wohnungen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude abgerissen und an seiner Stelle die Kirche St. Albert erbaut. Ein Gebäudetrakt am westlichen Ende des Klosters wurde 1931 in ein Gymnasium umgewidmet. Heute ist dies der Altbau des Kurfürst-Salentin-Gymnasiums. Und noch eine Schule hat im weitesten Sinn mit dem Klosterkomplex zu tun: Die Grundschule St. Stephan und die katholische Kirche in der Nähe tragen denselben Namen wie das Merowingerkloster aus dem 6. oder 7. Jahrhundert, das 844 während eines normannischen Angriffs zur Ruine wurde und 1127 – wiederaufgebaut – den Springiersbachern übertragen wurde.

Die Texwindisstraße in der Andernacher Südstadt fristet derweil weiter ihr beschauliches Anliegersträßchendasein. In der Familiengeschichte dieser Bloggerin spielt sie jedenfalls eine gewisse Rolle: Wie sie selbst, so hatte auch ihre Mutter sie auf dem Weg zum Freibad jeden Sommer unzählige Male durchquert. Das war in den 1950ern. Und Mutter ist sich sicher, dass auch die Schlaglöcher historischen Wert haben. „Die Straße haben sie seitdem auch nicht mehr gemacht.“

***

Literatur:

Haverkamp, Alfred: Tenxwind von Andernach und Hildegard von Bingen. Zwei ‚Weltanschauungen‘ in der Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, S. 515-548.

Pauly, Ferdinand: Springiersbach. Geschichte des Kanonikerstifts und seiner Tochtergründungenim Erzbistum Trier von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Trier 1962.

Rosen, Wolfgang: Hildegard von Bingen und Texwindis von Andernach. Zwei Konventsvorsteherinnen streiten sich über das rechte Klosterleben, in: Andernacher Annalen 3 (1999/2000), S. 5-25.

Die übersetzten Zitate sind dem Artikel von Wolfgang Rosen entnommen, der sich auf Hartmut Boockmann: Das Mittelalter. Ein Lesebuch aus Texten und Zeugnissen des 6. bis 16. Jahrhunderts, München 1989, S. 81-84 stützt.

Ich danke Mirco Lange (Köln) und dem Historischen Verein Andernach e.V. für die freundliche Überlassung von Literatur.

***

Mehr vom Mittelrhein: „Es ist so was Lebendiges drum“ – Die Frauenrechtlerin Ika Freudenberg

Zitiervorschlag: Bianca Walther: Texwindis von Andernach – Klostervorsteherin und Reformerin, 15.6.2021, https://biancawalther.de/texwindis-von-andernach/ (abgerufen am [DATUM]).