Anna Pappritz: Indisches Tagebuch.
Leseprobe I – Einführung
Der folgende Text ist eine leicht bearbeitete Version der ersten Seiten der Einführung zu:
Anna Pappritz: Indisches Tagebuch. Eine Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Bianca Walther, mit einem Vorwort von Bärbel Kuhn und Kerstin Wolff, St. Ingbert 2020.
Einführung
Bianca Walther
„Solange die Weltreise nicht in Plätze führt, die weit abseits vom Hauptstrom des Reiseverkehrs liegen, können auch Damen unbedenklich allein reisen.“
Meyers Reisebücher: Weltreise. Erster Teil: Indien, China und Japan, 2. Aufl., Leipzig und Wien 1912, S. 1.
Prolog
„Vom 2. N. 1912 – 24. Feb 1913 dauerte m. Indische Reise!“1 Mit diesen lapidaren Worten handelt die Berliner Frauenrechtlerin Anna Pappritz in ihrem Tagebuch die weiteste und wohl abenteuerlichste Reise ihres Lebens ab. Wo man bislang in ihren Schriften auch suchte, nirgends sonst fand sich ein Hinweis auf diese doch vermutlich denkwürdige Episode im Leben einer oft krankheitsgeplagten Frau, die 1861 auf einem brandenburgischen Gutshof geboren wurde und in deren Familie zuvor niemand eine große Neigung zu Weltreisen gehabt hatte. Ein Satz zum Entschluss, einer zu den Reisevorbereitungen, ansonsten – nichts. Keine Briefe, keine Publikation, nicht einmal ein Reisebericht in der so reichen frauenbewegten Presselandschaft.
Warum reist eine Frauenrechtlerin nach Indien?
Was hatte Anna Pappritz nach Indien verschlagen? Innerhalb der Frauenbewegung hatte sie sich dem Abolitionismus verschrieben – dem Kampf gegen das System der staatlich reglementierten Prostitution, wie es neben Deutschland in mehreren europäischen Ländern praktiziert wurde.2
War es eine Studienreise, um sich die Lage in einem anderen Land anzusehen? Ging es um Kontakte? Die Frauenbewegung war international gut vernetzt. Es gab einen Weltfrauenrat und internationale Konferenzen; man kannte und besuchte sich, lernte voneinander und schaute beieinander ab. Hatte Pappritz bei einer dieser Gelegenheiten eine Kollegin kennengelernt, die in Indien aktiv war? Eine Aussage zu ihrer Motivation ist Pappritz’ Schriften nirgends zu entnehmen – vielleicht auch, weil sie kurz nach der Rückkehr mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hatte: Eine langwierige Erkrankung machte ihr ab Frühjahr 1913 bis weit in die Kriegsjahre hinein jede frauenrechtlerische Arbeit unmöglich und schränkte auch ihre Publikationstätigkeit stark ein. Dann verschob der Krieg die Prioritäten, und in den 1920er Jahren waren schließlich Inflation, Geldmangel und neue Prostitutionsgesetze in der jungen Demokratie bestimmende Faktoren in Pappritz’ Leben und Arbeit. Die „Indische Reise“ schien vergessen.
Warum glaubten wir, dass Anna Pappritz ein Reisetagebuch führte?
Dass Anna Pappritz während der Reise Tagebuch geführt hatte, galt schon lange als wahrscheinlich.3 In Zeiten vor der Verbreitung der Fotografie war ein Reisetagebuch zunächst schlicht der einfachste Weg, Erlebtes für die Erinnerung festzuhalten. Das Tagebuch Schreiben allgemein hatte aber gerade für Menschen des Bürgertums noch eine tiefere Bedeutung: Tagebücher waren oft nicht nur für den Eigengebrauch vorgesehen, sondern wurden an vertraute Personen weitergeben, manchmal mit ihnen ausgetauscht.
Hierin ähneln sie anderen Selbstzeugnissen wie Memoiren, Autobiografien und Briefen: Es werden eben nicht nur Ereignisse wiedergegeben, sondern es wird auch die eigene Person inszeniert: Man gibt der Erzählung seine persönliche Note, schmückt aus, lässt weg, kommentiert, scherzt oder kritisiert, spielt mit Erwartungen der Lesenden, lotet aus, was gut ankommt und was nicht. Freilich werden auch Bilanzen gezogen; es wird Rechenschaft abgelegt und, wo nötig, auch eigenes Scheitern verarbeitet – mal melancholisch, mal mit Humor, ganz nach Situation und Charakter.
Tagebuch Schreiben als Doing bourgeois
Kurz gesagt, Schreiben war doing bourgeois. Schreibend machte der bürgerliche Mensch aus gelebtem Leben eine stimmige Erzählung, eine Bio-Grafie im wahrsten Sinne des Wortes, die eine Dramaturgie, einen Sinn und idealerweise ein Fazit hatte. Schließlich war das bürgerliche Leben nicht dazu da, einfach in den Tag hineingelebt zu werden. Es war stets in der Entwicklung, stets im Werden, mit einem Plan, der auf bürgerlichen Werten fußte: Bildung, Individualität und dem Anspruch, zu gestalten – den Werten immerhin, mit denen zunächst Männer, später aber auch zunehmend Frauen sich aus dem Untertanendasein zu befreien begonnen hatten und damit noch lange nicht fertig waren.4
Dieser Prozess war interaktiv. Memoiren, Briefe und Tagebücher sind voller Zitate und intertextueller Bezugnahmen, mit denen Schreibende sich zueinander und gesellschaftlich positionierten. Auch die Lesenden hatten einen aktiven Anteil: Sie setzten sich über den Text zur schreibenden Person in Beziehung, reagierten (und zwar nicht immer so, wie jene es beabsichtigt hatte) und fügten damit der eigenen und gemeinsamen Identität wiederum einen Baustein hinzu. Das Erschaffen von sich selbst als mündigem Individuum war also eine kollektive und reflexive Praxis, das bürgerliche Schreiben ein ständiges Gespräch mit sich selbst und miteinander.
Auch Anna Pappritz nahm an diesem Gespräch regen Anteil. Über viele Jahrzehnte verarbeitete sie regelmäßig ihr Leben und ihren Alltag, indem sie darüber schrieb. Als junge Erwachsene verfasste sie semiautobiografische Erzählungen; aus späteren Jahren sind neben zahlreichen Briefen ein (wenngleich recht knappes und summarisches) Tagebuch, ein Tageskalender sowie ein Manuskript erhalten, in dem sie ihren Werdegang als Frauenrechtlerin darlegt. Warum hätte sie ausgerechnet die Indienreise aussparen sollen?
Wie das Tagebuch ans Licht kam
Die Antwort liegt jetzt vor: Sie hat sie nicht ausgespart. Das Reisetagebuch nahm lediglich einen anderen Weg als der Rest des Nachlasses, der nach Pappritz’ Tod in den Besitz der Helene-Lange-Stiftung überführt wurde.5 Das Typoskript, nach dem diese Edition entstand, verblieb nach Pappritz’ Tod im Besitz ihrer Lebensgefährtin Margarete Friedenthal. Nach deren Tod 1957 nahm es die befreundete Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Dorothee von Velsen an sich, die sich um Friedenthals Nachlass kümmerte. Sie leitete es dann an die ebenfalls befreundete Politikerin Marie-Elisabeth Lüders weiter.6
Mag sein, dass von Velsen dabei im Sinn hatte, dass das Manuskript im Besitz einer Bundestagsabgeordneten eine größere Überlebenschance haben würde. Es kann aber auch schlicht ein Freundschaftsdienst gewesen sein: Das Verhältnis zwischen Pappritz und der 17 Jahre jüngeren Lüders war äußerst herzlich gewesen, was sich auch darin zeigt, dass ‚Lisbeth‘ eine der wenigen Mitstreiterinnen war, die von Pappritz geduzt wurden. Nach deren Tod verschwand das Tagebuch dann in einem Karton; der wiederum landete irgendwann im Magazin des Bundesarchivs, das den Nachlass der FDP-Politikerin aufbewahrt. Dort lagerte er ungeöffnet, bis er Mitte 2019 in einer eigentlich ganz anderen Angelegenheit aus dem Regal gezogen wurde.7
Die Entscheidung zur Veröffentlichung in einer kommentierten Edition fiel aus mehreren Gründen. Der offensichtlichste ist, dass das Tagebuch eine bislang rätselhafte Lücke in Anna Pappritz’ Lebenslauf schließt. Es ist aber nicht nur von biografischem Interesse, sondern gibt uns auch detaillierte Einblicke darin, wie es sich um 1900 als bürgerliche Frau ohne männliche Begleitung reiste. Logistische Informationen etwa zu Verkehrsverbindungen, Hotels und Postverkehr mischen sich mit den Eindrücken, Reflexionen und Projektionen einer wohlhabenden Berlinerin.
Nicht zuletzt wird die koloniale Dimension des Fernreisens sichtbar. In ferne Länder zu reisen war für Frauen schließlich nicht nur ein befreiendes, oft hart erkämpftes Erlebnis, sondern auch eins, das ohne den westlichen Imperialismus nicht möglich gewesen wäre. Kaufkraftvorteile, die Durchdringung anderer Länder mit eigener Infrastruktur, Gesetzgebung und Sprache waren Grundvoraussetzungen dafür, dass das wohlhabende Bürgertum Europas und Nordamerikas sich überhaupt in fremden Ländern bewegen konnte.
Warum eine Einführung?
Diese Einführung soll daher aus zwei Richtungen als Einstiegshilfe in den Text dienen. Zunächst soll sie die Reise in Anna Pappritz’ Biografie einordnen. Wer war die Frau hinter dem Tagebuch? Woher kam sie, was geschah danach, und welchen Stellenwert hatte die Reise in ihrem Leben? Zum anderen soll die Reise aber auch in den breiteren Kontext der um 1900 bereits ausgesprochen vielfältigen Praxis (fern-)reisender Frauen gestellt werden. Insbesondere Engländerinnen hatten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen, die Enge der viktorianischen Gesellschaft gegen die Unbequemlichkeit von Schiffskabinen, Eisenbahnen und Pferdewägen einzutauschen und darin durchaus einen Gewinn gesehen.
Die buchstäblichen wie sinnbildlichen Grenzüberschreitungen dieser Frauen, die als höhere Töchter noch zu Häuslichkeit und Selbstbeschränkung erzogen worden waren, sind insbesondere seit den 1980er Jahren zum Gegenstand zahlreicher Publikationen geworden. So sehr diese lady travellers aber einerseits beeindruckten, so sehr enttäuschten sie oft die Erwartungen oder Hoffnungen späterer Lesender, dass die Erfahrung als Frau in männerdominierten Gesellschaften auch ihren Blick für koloniale Unterdrückung geschärft haben möge.
Anna Pappritz war da keine Ausnahme. Auch sie kann uns in einem Satz zum Schmunzeln bringen, im nächsten zutiefst befremden. Wie man sie und die anderen reisenden Frauen angesichts dieser oft widersprüchlich erscheinenden Stimmenvielfalt in ihren Erzählungen bewertet, wird immer auch von der Perspektive der Lesenden abhängen. Dabei mag es eine Herausforderung sein, die Erweiterung weiblicher Handlungsspielräume nicht gegen Rassismus aufzurechnen oder umgekehrt, sondern beides in den Blick zu nehmen, ohne Rahmenbedingungen auszublenden, aber auch ohne das uns Verstörende mit der oft viel zu schnell bemühten Rede vom ‚Kind ihrer Zeit‘ abzuhandeln.
Kritisches Lesen ist möglich – und nötig!
Das heißt keineswegs, dass keine kritische Bewertung möglich ist – im Gegenteil: Indem wir den diskursgeschichtlichen Hintergrund beleuchten, können wir Worte und Taten im jeweiligen Kontext einordnen und in den zeitgenössischen Vergleich auch mit anderen Akteurinnen und Akteuren stellen. Wir können also differenzieren, ohne zu relativieren. Vielleicht kommen wir dabei zu dem Schluss, dass zur Aneinanderreihung der vielen Facetten eines Menschen „und“ oft ein passenderes Wort ist als „aber“.
Aber auch das mag eine Frage der Perspektive sein.
Die Kapitel der Einführung im Einzelnen:
1. Prolog (hier als Leseprobe)
2. Anna Pappritz: Eine Frau gerät in Bewegung – Ein biografischer Abriss zu Anna Pappritz.
3. Die „Indische Reise“ – Wie Anna Pappritz auf die Idee kam, nach Indien zu fahren.
4. Emanzipation und Imperialismus: Lady Travellers um 1900 – Etwas Kontext.
5. Memsahib auf Tour: Anna Pappritz’ Blick auf Indien – Wie verhielt Anna Pappritz sich auf Reisen?
6. Das Typoskript – Ein paar Informationen zum Archivfund und seiner Aufbereitung.
Neugierig? Das Buch lässt sich direkt beim Verlag bestellen: Anna Pappritz: Indisches Tagebuch. Eine Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Bianca Walther, St. Ingbert 2020.
Eine Leseprobe der Tagebucheinträge von Anna Pappritz findet ihr hier.
Anmerkungen
- Anna Pappritz: Tagebuch, Eintrag vom November 1912. Nachlass Anna Pappritz: Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin, Signatur B Rep. 235-13[↩]
- Prostitution war in großen Teilen Europas nicht verboten, sondern ‚reglementiert‘: Frauen, die sich prostituierten oder nur in Verdacht gerieten, wurden polizeilicher Kontrolle unterstellt, was Zwangsuntersuchungen und Polizeiwillkür nach sich zog. Der Abolitionismus kritisierte das und forderte neben einem Verbot der Reglementierung ein Ende der Doppelmoral, die Männer und Frauen an unterschiedlichen sittlichen Maßstäben maß. Als bildungsbürgerlich getragene Bewegung mit erzieherischem Anspruch sah er eine aktive Beteiligung Prostituierter jedoch nicht vor. Vgl. das Kapitel „Die Liberalen. Das Beispiel des Abolitionismus“ in Kerstin Wolff: Anna Pappritz 1861-1939. Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach/Taunus 2017, S. 141-154; Bettina Kretzschmar: Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau. Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung (1899-1933), Sulzbach/Taunus 2014..[↩]
- Vgl. Wolff 2017, S. 259.[↩]
- Zu den kommunikativen und identitätsstiftenden Aspekten solcher Selbstzeugnisse vgl. Johanna Gehmacher: „Leben schreiben. Stichwörter zur biografischen Thematisierung als historiografisches Format“, in: Dreidemy, Lucile u. a. (Hg.): Bananen, Cola, Zeitgeschichte, Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien 2015, S. 1013-1026.; Volker Depkat: „Doing identity. Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation“, in: Aust, Martin/Schenk, Benjamin (Hg.): Imperial Subjects: Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2015, S. 39-58.; zu bürgerlichen Werten Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann: „Zur Historisierung bürgerlicher Werte“, in: Dies. (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 7-22.[↩]
- Vgl. Margarete Friedenthal an Wolfgang Mittermaier, 3. September 1939, NL Mittermaier, Heid. Hs. 3443,64. Die Bestände der Helene-Lange-Stiftung befinden sich mittlerweile im Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin.[↩]
- Dorothee von Velsen an Marie-Elisabeth Lüders, Ostern 1959, NL Lüders, Mappe 341.[↩]
- Mittlerweile sind das Typoskript wie auch der begleitende Schriftverkehr im Nachlass von Marie-Elisabeth Lüders unter der Signatur BArch NL 1151/341 zugänglich.[↩]